286 Zur Ästhetik: b) Poetische Charakteristik. 2. Drama.
Wir fühlen bald, daß wir uns bei ihm in einer anderen Sphäre befinden.
Hier nehmen wir sogleich ein ganz anderes Verhältnis wahr; nicht Hellenen
stehen Barbaren, sondern Menschen stehen Menschen gegenüber. Jphigenia tritt
uns in ihrer Reinheit und Lauterkeit als ein höheres Wesen entgegen, in segens¬
reichem Wirken verbreitet sie rings um sich Frieden und Heil, sie gewinnt sich
aller Liebe und Verehrung, selbst Thoas, ein strenger, aber edler Mann, wendet
ihr seine Neigung zu. Kamt sie gleich dieselbe nicht erwidern, fühlt sie sich auch
nicht heimisch unter diesem Volk, so weiß sie sich doch mit zarten und innigen
Banden hier gehalten, deren Lösting nicht durch äußere Willkür, nicht durch
rauhe Gewalt herbeigeführt werden kaun. Wie lebhaft sie auch iu das geliebte
Vaterland zurückzukehren hofft, nicht ohne schweren Kampf ihrer Seele wird sie
ein Land verlassen, dem sie durch ihr Walteit treu geworden ist und das durch
seine Liebe sie auch an sich gefesselt hat; wir ahnen, daß sie um eines höheren
Zweckes willen hierher geführt worden ist, dessen Erfüllung auch ihre Wünsche
krönen wird. So ist denn das Interesse, das wir au Jphigenias Befreiung
nehmen, sogleich als ein geistiges bezeichnet, die Kämpfe, durch welche dieselbe
zu erreichen sein wird, sind in den Bereich des Gemütes übertragen.
Orestes und Pylades treten auf, jener im Angesicht des nahen Todes
ergeben und gefaßt, dieser lebeusmutig noch auf Rettung hoffend. Die Unter¬
redung stellt ihre verschiedenen Charaktere deutlich heraus. Pylades, kühn und
gewandt, ein schon durch die Schule des Lebens gebildeter Manu, blickt der
Gefahr fest ins Auge und sieht in jeder neuen Verlegenheit nur eine Aufgabe,
die ein kluger Sinn mit dem Beistand der Götter, und dieser ist ihnen zugesagt,
wohl lösen könne. Darum ist er auch jetzt auf Mittel bedacht, wie er den
Freund aus dieser Gefahr errette. Orestes erscheint als ein einfacher, wahrer
Charakter; das lebendige, starke Gefühl, welches ihn zum Handeln treibt, ist er
nicht fähig zu verleugnen oder zu verbergen. Erfüllt von dem Frevel an dem
geliebten Vater, durchdrungen von dem Gefühl seiner Pflicht, ihn zu rächen,
hat er die Mutter getötet, aber so wie die schwere That verübt ist, ergreift
ihn das volle Bewußtsein seines Verbrechens mit derselben Macht; stets ist es
vor seinen Augen und ruht nicht, mit stets neuen Qualen ihn zu ängstigen;
seine Thatkraft ermattet, bis er endlich das verwirkte Leben zur Sühne hinzu¬
geben gern bereit ist. Hier tritt es uns nun klar entgegen, wie der Kampf,
den Orestes' ruchlos-fromme That erweckt, ganz iu sein Inneres verlegt und
von ihm selbst, nicht um ihn gekämpft wird.
Jphigenia, die von Pylades erfährt, daß die Gefangenen Griechen, aber
nicht, wer sie sind — denn zu ihrer Sicherheit giebt er vor, sie seien Kreter,
Orestes habe im Streit seinen Bruder erschlage« und werde deshalb von den
Furien verfolgt —, befragt ihn um den troischen Krieg, um das Geschick ihres
Hauses und hört von ihm, daß Agamemnon durch Klytämnestra erschlagen ist.
Tief erschüttert verläßt sie ihn. Nachdem sie sich gefaßt, tritt ihr Orestes ent¬
gegen, von dem sie nun die ferneren Schickungen der Ihrigen zu erfahren begehrt;