Full text: Vaterländisches Lesebuch für die Evangelische Volksschule Norddeutschlands

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109. Dornröschen. 
(Märchen.) 
Vor Zeiten war ein König und eine Königin, die sprachen jeden Tag: 
„Ach, wenn wir doch ein Kind hätten!" und krigten immer keins. Endlich 
aber bekamen sie ein so schönes Mädchen, daß der König vor Freude sich 
nicht zu lassen wußte und ein großes Fest anstellte. Er lud nicht bloß 
seine Verwandten, Freunde und Bekannten, sondern auch die weisen Frauen 
dazu ein, damit sie dem Kinde hold und gewogen würden. Es waren ihrer 
dreizehn in seinem Reiche; weil er aber nur zwölf goldene Teller hatte, 
von welchen sie essen sollten, konnte er eine nicht einladen. Die geladen 
waren, kamen, und nachdem das Fest gehalten war, beschenkten sie das Kind 
mit ihren Wundergaben: die eine mit Tugend, die andere mit Schönheit, 
die dritte mit Reichthum, und so mit allem, was Herrliches auf der Welt 
ist. Als elf ihre Wünsche eben gethan hatten, kam die dreizehnte herein, 
die nicht eingeladen war und sich dafür rächen wollte. Sic rief: „Die 
Königstochter soll sich in ihrem fünfzehnten Jahre an einer Spindel stechen 
und todt hinfallen." Da trat die zwölfte hervor, die noch einen Wunsch 
übrig hatte; zwar konnte sie den bösen Ausspruch nicht aufheben, aber sie 
konnte ihn doch mildern und sprach: „Es soll aber kein Tod sein, sondern 
ein hundertjähriger, tiefer Schlaf, in den die Königstochter fällt." 
Der König hoffte, sein liebes Kind noch vor dem Ausspruch zu be¬ 
wahren, und ließ den Befehl ausgehen, daß alle Spindeln im ganzen König¬ 
reich sollten abgeschafft werden. An dem Mädchen aber wurden alle Gaben 
der weisen Frauen erfüllt, denn cs war so schön, sittsam, freundlich und 
verständig, daß es jedermann, der es ansah, lieb haben mußte. Es ge¬ 
schah, daß an dem Tage, wo es gerade fünfzehn Jahre alt war, der König 
und die Königin nicht zu Haus waren und das Fräulein ganz allein im 
Schlosse zurück blieb. Da ging es aller Orten herum, besah Stuben und 
Kammern, wie cs Lust hatte, und kam endlich auch an einen alten Thurm. 
Es stieg eine enge Treppe hinauf und gelangte zu einer kleinen Thür. In 
dem Schlosse steckte ein gelber Schlüssel, und als sie umdrehte, sprang die 
Thür auf und saß da in einem kleinen Stübchen eine alte Frau und spann 
emsig ihren Flachs. „Ei, du altes Mütterchen", sprach die Königstochter, 
„was machst du da?" „Ich spinne", sagte die Alte und nickte mit dem 
Kopfe. „Wie das Ding herumspringt!" sprach das Fräulein und nahm 
die Spindel und wollte auch spinnen. Kaum hatte sie die Spindel an¬ 
gerührt, so ging die Verwünschung des Zauberweibes in Erfüllung, und sie 
stach sich damit. 
In dem Augenblicke aber, wo sie sich gestochen hatte, fiel sie auch 
nieder in einen tiefen Schlaf. Und der König und die Königin, die eben 
zurückgekommen waren, fingen an mit dem ganzen Hofstaat einzuschlafen. 
Da schliefen die Pferde im Stalle ein, die Hunde im Hofe, die Tauben auf 
dem Dache, die Fliegen an der Wand, ja, das Feuer, das aus dem Herde
	        
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