bcö irdischen, rein menschlichen Daseins auf den Flügeln der Sehn¬
sucht nach dem Göttlichen enteilen möchte. Ihre jugendlichen Be¬
strebungen verloren in ihren Augen so sehr allen Wert, daß sie
ihnen keinen Platz gönnte unter den von ihr selbst herausgegebenen
Dichtungen. Durch die Schückiugsche Sammelausgabe wurden sie
zum Teil der Vergessenheit entrissen, und die später erschienene, von
Kreiten besorgte Ausgabe bietet uns ein vollständiges Bild ihrer
litterarischen Entwicklung.
Das oberste Gesetz nun ihrer vollentwickelten Dichterkrast war
Wahrheit. „Sie wissen selbst," so schrieb sie an Schlüter, „daß ich
nur im Naturgetreuen, durch Poesie veredelt, etwas leisten kann."
Wie dieses Wort es so schön ausdrückt, wollte sie nicht die Natur
einfach abzeichnen, sondern vielmehr gleichsam ihre Seele, ihren Geist
ergründen und durch den Hauch des Ewigen, des Idealen, die Er¬
scheinungswelt verklären und vergeistigen. Nicht jenen idceenlosen
Realismus finden wir in ihren Dichtungen vertreten, der, eng ver¬
wandt mit dem Materialismus, desseu nächster Vorläufer ist, sondern
den echt künstlerischen Realismus, der auch den gewöhnlichsten Stoffen
Leben einhaucht aus dem eigenen geistigen Leben. Nehmen wir noch
eine gewisse Sprödigkeit und Ursprünglichkeit hinzu, die Ausflüsse
ihres ureigensten Wesens sind, dann ist die Kunstrichtung ihres
späteren Lebens voll gekennzeichnet.
Unter den lyrischen Gedichten, zu denen sich Annette übrigens
weit weniger gedrängt fühlte als zu epischen Dichtungen, sind vor
allem ihre „Heidebilder" zu nennen. Ihr für die meisten Augen so
schmuckloses Heimatland erstrahlt, mit ihr und durch sie geschaut, in
wonniger Schöne. Sie ergeht sich in eine Beschreibung, die jeden
Ton lebendig wiedergiebt, jede Farbe trifft und der Natur geheimstes
Weben belauscht. So maßlos dieselbe zu sein scheint, sie ist es
nicht; ans dieser äußeren Hülle entpuppt sich wie ein Falter in
blendender Farbenfülle ein schöner Gedanke. Sie hat auch den Um¬
gebungen des Bodensees manches tief empfundene Dichterwort ge¬
schenkt; aber nirgendwo zeigt sich ihr Natursinn so voll und rein,
als wenn sie das Land ihrer Wiege verklärt und adelt.
Die Denkmäler, die sie befreundeten Männern und Frauen
setzte, ragen vor den meisten ähnlichen Erscheinungen dadurch hervor,
daß das ungeschminkteste Gefühl in ihnen wie ein warmer Strom
dem Herzen entquillt. Jedes Gemachte, jede falsche Sentimentalität
Wacker, Lesebuch. Hl. Teil. 30