Full text: [Teil 3 = Oberstufe, [Schülerband]] (Teil 3 = Oberstufe, [Schülerband])

bcö irdischen, rein menschlichen Daseins auf den Flügeln der Sehn¬ 
sucht nach dem Göttlichen enteilen möchte. Ihre jugendlichen Be¬ 
strebungen verloren in ihren Augen so sehr allen Wert, daß sie 
ihnen keinen Platz gönnte unter den von ihr selbst herausgegebenen 
Dichtungen. Durch die Schückiugsche Sammelausgabe wurden sie 
zum Teil der Vergessenheit entrissen, und die später erschienene, von 
Kreiten besorgte Ausgabe bietet uns ein vollständiges Bild ihrer 
litterarischen Entwicklung. 
Das oberste Gesetz nun ihrer vollentwickelten Dichterkrast war 
Wahrheit. „Sie wissen selbst," so schrieb sie an Schlüter, „daß ich 
nur im Naturgetreuen, durch Poesie veredelt, etwas leisten kann." 
Wie dieses Wort es so schön ausdrückt, wollte sie nicht die Natur 
einfach abzeichnen, sondern vielmehr gleichsam ihre Seele, ihren Geist 
ergründen und durch den Hauch des Ewigen, des Idealen, die Er¬ 
scheinungswelt verklären und vergeistigen. Nicht jenen idceenlosen 
Realismus finden wir in ihren Dichtungen vertreten, der, eng ver¬ 
wandt mit dem Materialismus, desseu nächster Vorläufer ist, sondern 
den echt künstlerischen Realismus, der auch den gewöhnlichsten Stoffen 
Leben einhaucht aus dem eigenen geistigen Leben. Nehmen wir noch 
eine gewisse Sprödigkeit und Ursprünglichkeit hinzu, die Ausflüsse 
ihres ureigensten Wesens sind, dann ist die Kunstrichtung ihres 
späteren Lebens voll gekennzeichnet. 
Unter den lyrischen Gedichten, zu denen sich Annette übrigens 
weit weniger gedrängt fühlte als zu epischen Dichtungen, sind vor 
allem ihre „Heidebilder" zu nennen. Ihr für die meisten Augen so 
schmuckloses Heimatland erstrahlt, mit ihr und durch sie geschaut, in 
wonniger Schöne. Sie ergeht sich in eine Beschreibung, die jeden 
Ton lebendig wiedergiebt, jede Farbe trifft und der Natur geheimstes 
Weben belauscht. So maßlos dieselbe zu sein scheint, sie ist es 
nicht; ans dieser äußeren Hülle entpuppt sich wie ein Falter in 
blendender Farbenfülle ein schöner Gedanke. Sie hat auch den Um¬ 
gebungen des Bodensees manches tief empfundene Dichterwort ge¬ 
schenkt; aber nirgendwo zeigt sich ihr Natursinn so voll und rein, 
als wenn sie das Land ihrer Wiege verklärt und adelt. 
Die Denkmäler, die sie befreundeten Männern und Frauen 
setzte, ragen vor den meisten ähnlichen Erscheinungen dadurch hervor, 
daß das ungeschminkteste Gefühl in ihnen wie ein warmer Strom 
dem Herzen entquillt. Jedes Gemachte, jede falsche Sentimentalität 
Wacker, Lesebuch. Hl. Teil. 30
	        
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