Full text: Griechische und römische Sagen und Erzählungen, Deutsche Sagen, Lebensbilder aus der brandenburgisch-preußischen Geschichte (Teil 1)

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II. Deutsche Sagen. 
11. Gudrun. 
In alten Zeiten hieß die Nordsee das „Deutsche Meer". An 
dessen Küste wohnte das tapfere Volk der Friesen. Über sie herrschte 
einst der König Hettel mit seiner Gemahlin Hilde. Wie er diese ge- 
Wonnen, erzählt uns ein altes Heldengedicht. Sie war von ihrem Vater 
Hagen, dem Könige von Irland, einem gewaltigen Recken, der die Stärke 
von 26 Männern besaß, wie ein Kleinod gehütet worden, und wer um 
sie warb, der setzte sich einem schmachvollen Tode aus. 
Da hatte aber Hettel drei seiuer Helden abgeschickt, die Hilde für 
ihn gewinnen sollten: seinen Erzieher, den Markgrafen Wate, einen 
wahren Riesen mit grimmigem Antlitz, der trotz seines Alters mit den 
Jüngsten in Kampfeslust wetteiferte, und den klugen Dänenfürsten Frute 
mit seinem sangeskundigen Neffen Horand. Als Kaufleute, nicht als 
Ritter unternahmen sie die Fahrt, und mit kostbaren Waren hatte Hettel 
ihre Schiffe beladen. Als sie in Hagens Reich ankamen, erzählten sie, 
daß sie bei ihrem König Hettel in Ungnade gefallen und vor ihm ge- 
flohen seien. Hagen gewährte ihnen Schutz, und mit reichen Gaben 
dankten sie ihm dafür. Auch die Einwohner des Landes freuten sich 
bald über die Ankunft der Fremden; denn so billig hatte man noch nie- 
mals Kostbarkeiten kaufen können wie bei diesen ritterlichen Kaufleuten. 
Auf Bitten von Hagens Tochter lädt sie dieser auf seine Burg ein. So 
schwer es ihm auch wurde, Wette mußte sich doch dazu verstehen, im 
Frauengemach zu sitzen und die Königin und ihre Tochter zu unterhalten. 
Als sie ihn fragten, ob es ihm bei ihnen gefiele, da meinte er: „Eines 
ziemt mir traun besser als sitzen bei schönen Frauen. Eins gelingt mir 
besser: mit tüchtigen Knechten, wenn es sein soll, harten Strauß zu 
fechten." Über diese Antwort lachte das Königskind, aber Hagen ge- 
fiel der alte Held darum desto mehr. Seine Kampfart wollte er ihn 
lehren. Der Schüler lernte schnell. Beim Fechten zersprangen von den 
starken Hieben den Helden die Schwerter in der Hand, und Hagen be- 
kannte, daß von diesem Schüler er selbst noch etwas lernen könnte. Den 
Frauen aber wurde Horand lieber, als er seinen herrlichen Gesang an- 
stimmte, einen Gesang, daß selbst die Vögel zu singen aufhörten vor dem 
lieblichen Tone, und Hilde ihren Vater bat: „Lieb Väterlein, heiße ihn 
uns noch neue Lieder singen!" Dadurch bekam Horand die Gelegenheit, 
der Königstochter zu erzählen von Hettel, seinem Herrn, der noch schöner 
sänge als er, und der um ihretwillen sie hierher gesendet. Bald war sie 
willig, ihm als Königsbraut nach Friesland zu folgen.
	        
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