Full text: Für das sechste und siebente Schuljahr (Teil 3)

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2. Der Mensch ward Richter. „Noch ein Wort," rief ihm der majestä¬ 
tische Löwe zu, „bevor du den Ausspruch tust! Nach welcher Regel, Mensch, 
wirst du unsern Wert bestimmen?" 
„Nach welcher Regel? Nach dem Grade ohne Zweifel," antwortete 
der Mensch, „in welchem ihr mir mehr oder weniger nützlich seid." 
„Vortrefflich!" versetzte der beleidigte Löwe. „Wie weit würde ich als¬ 
dann unter den Esel zu stehen kommen! Du kannst unser Richter nicht 
sein, Mensch! Verlaß die Versammlung!" 
3. Der Mensch entfernte sich. „Nun," sprach der höhnische Maulwurf, 
und ihm stimmte der Hamster und der Igel wieder bei, „siehst du, Pferd, 
der Löwe meint es auch, daß der Mensch unser Richter nicht sein kann! 
Der Löwe denkt wie wir." 
„Aber aus bessern Gründen als ihr!" sagte der Löwe und warf ihnen 
einen verächtlichen Blick zu 
4. Der Löwe fuhr weiter fort: „Der Rangstreit, wenn ich es recht über¬ 
lege, ist ein nichtswürdiger Streit! Haltet mich für den Vornehmsten oder 
für den Geringsten, es gilt mir gleich viel. Genug, ich kenne mich!" Und 
so ging er aus der Versammlung. 
Ihm folgte der weise Elefant, der kühne Tiger, der ernsthafte Bär, 
der kluge Fuchs, das edle Pferd, kurz alle, die ihren Wert fühlten oder 
zu fühlen glaubten. 
Die sich am letzten wegbegaben und über die zerrissene Versammlung 
am meisten murrten, waren — der Affe und der Esel. 
Gotthold Ephraim Lessing. 
107. Der Wolf auf dem Totenbette. 
Der Wolf lag in den letzten Zügen und schickte einen prüfenden 
Blick auf sein vergangenes Leben zurück. „Ich bin freilich ein Sünder" 
sagte er, „aber doch, ich hoffe, keiner von den größten. Ich habe Böses 
getan, aber auch viel Gutes. Einsmals, erinnere ich mich, kam mir ein 
blökendes Lamm, das sich von der Herde verirrt hatte, so nahe, daß ich 
es gar leicht hätte würgen können, und ich tat ihm nichts. Zu eben 
dieser Zeit hörte ich die Spöttereien und Schmähungen eines Schafes 
mit der bewunderungswürdigsten Gleichgültigkeit an, ob ich schon keine 
schützenden Hunde zu fürchten hatte." 
„Und das alles kann ich dir bezeugen," fiel ihm Freund Fuchs, 
der ihn zum Tode bereiten half, ins Wort. „Denn ich erinnere mich 
noch gar wohl an die Umstände dabei. Es war zu eben der Zeit, als 
du dich an dem Beine so jämmerlich würgtest, das dir der gutherzige 
Kranich hernach aus dem Schlunde zog." 
Gotthold Ephraim Lessing.
	        
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