fullscreen: Die Geschichte der neuesten Zeit (Bd. 4)

8. Rußland unb die Türkei bis aum Frieden von Abrianopel. 87 
eingriff. Eine stumme, aber im Stillen um sich greifende Unzufriedenheit 
regte sich in der Nation über das von dem Monarchen befolgte Regierungs¬ 
System, das Rußland zum Werkzeug einer fremden Politik machte und 
den bisherigen Entwickelungsgang aufzuhalten drohte. Diese stille Unzu¬ 
friedenheit wäre jeboch nie zum Ausbruche gekommen unb, wie so viele 
anbete Klagen, spurlos verhallt, wenn sie nicht in ben Reihen bes Heeres 
einen festen Halt gewonnen hätte. Der letzte große Krieg hatte einem Theile bes 
Adels Gelegenheit gegeben, längere Zeit in Deutschland und Frankreich, zu 
weilen und Vergleiche zwischen der Heimat und dem Auslande anzustelleu. 
Ein Corps von 50,000 Russen hatte einen Theil von Frankreich drei Jahre 
lang besetzt gehalten. Außerdem war das Reisen, und zwar immer in den 
am meisten vorgeschrittenen Ländern Europa's, viel häufiger als früher 
geworden. Bald nach den Felbzügen waren in Petersburg Gleichgesinnte, 
sämmtlich bem höheren Militär- unb Civilstanbe, mitunter ben ersten Fa¬ 
milien des Landes angehörig, zu geheimen Gesellschaften zusammengetreten, 
die anfänglich keine eigentliche revolutionäre, sondern nur resormatorische 
Zwecke, Abstellung der vielen Mißbräuche, der unbeschränkten Gewalt der 
Einen, der grenzenlosen Knechtschaft der Anderen verfolgten, allmählich aber 
in ihren Plänen zu einer entschiedenen Opposition gegen die vorhandenen 
Zustände übergingen. Die Form dieser geheimen Gesellschaften war ur¬ 
sprünglich, wie fast überall, der Freimaurerei nachgeahmt. Als die Orga¬ 
nisation der Carbonaria bekannter geworden, ward dieselbe auch in Ru߬ 
land von den Unzufriedenen zum Vorbilde genommen. Es wurde be¬ 
schlossen, eine große, von dem Kaiser Alexander im Mai 1826 in Süd- 
rußland abzuhaltende Truppen-Musterung zur Ausführung der so lange 
genährten Entwürfe, d. H. der Ermordung des Monarchen und dem Um¬ 
stürze der bisherigen Regierungsform, zu benutzen. Es waren dem Kaiser 
Alexander einzelne Winke unb Warnungen über die nicht blos die Ruhe 
des Reiches, sondern sein eigenes Leben bedrohenden Absichten der „geheimen 
Gesellschaften" zugekommen.' Die angestellten'Verhaftungen und Unter¬ 
suchungen hatten aber auf keine bestimmte Spur geführt. Die Kunde von 
diesen Umtrieben und Gefahren vermehrte Alexander's Mißtrauen und 
Schwermnth. Im Spätsommer 1825 trat er, um sich von seiner iunern 
Trauer durch den Wechsel neuer Eindrücke zu befreien und zugleich durch 
eine mildere Luft seine zerrüttete Gesundheit wieder herzustellen, eine Reise 
nach den südlichen Gegenden seines Reiches an. Düstere Ahnungen er¬ 
füllten ihn, als er auf einer Anhöhe bei Petersburg seinen Wagen an¬ 
halten ließ und die Stadt noch einmal betrachtete, von der ihm eine innere 
Stimme sagte, daß er sie nicht mehr wiedersehen werde. In der Stadt Taganrog 
am Asowschen Meere traf er mit seiner Gemahlin zusammen, die er lange 
vernachlässigt hatte, zu der er sich aber jetzt wieder hingezogen fühlte. Eine 
Erkältung artete bald in ein Gallenfieber aus, von dem er, ohne den krank-
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.