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3. Die vergessene Hortensie.
Als die kleine Emma und ich eintraten, merkte ich an allem sofort,
daß ein Schwerkranker, ein Sterbender in der Nähe weilte. Die Haustür¬
glocke war abgestellt; über den Treppenstufen lagen Tücher und Teppiche.
Eine alte Wärterin kam mit finsterer, besorgter Miene aus dem Keller. Sie
5 trug ein warmes Getränk: zuweilen lüftete sie den Deckel und pustete hinein.
Sie ging hinauf. Der Arzt, ein junger Mann, kam von oben. Er blieb
bei mir stehen und schüttelte den Kopf: „Es ist bald aus." Dann ver¬
schwand er durch die stumm gewordene Haustür.
Überall, so kam es mir vor, roch es schon nach jenen Säuren und
10 Essenzen, die wir sprengen, wenn eine Leiche noch im Sterbezimmer liegt.
Nun nahm ich der kleinen Emma den Stock ab. Sie faßte mich an
der linken Hand. Und so stiegen wir beide hinauf. Ich öffnete leise eine
Tür, die mir von dem Kinde bezeichnet war. Hier fand ich den Vater.
Er stützte den Kopf in die Linke. Er weinte nicht; aber er war zum Um-
15 sinken gebeugt. Ich zeigte ihm das Bäumchen. Er nickte nur; dann wies
er auf eine Stubentür. Sie war angelehnt. Ich schob sie auf.
In einem matt erhellten Raum, in den aber die Sonne einige Strahlen
schicken durfte, lag in einem Bette an der Wand ein etwa zwanzigjähriger,
bartloser Mann. Die Wangen waren ihm eingefallen. Er wandte, ohne
20 den Kopf zu drehen, die Augen zu uns, schwer, mit Anstrengung. Und ein
himmlisches Leuchten, wie ich es nie bei einem Menschen beobachtet hatte,
drang aus seinen Augen: so sanft, so liebevoll, so stillselig, so zufrieden.
Er hatte die schöne Blume entdeckt. Und ich wußte nun, weshalb ich an
dem ganzen Tage eine solche Unruhe gehabt hatte. Ich konnte, ich durfte
25 nicht zu spät kommen, um einem Sterbenden die letzte Freude zu bringen.
Seine alte Mutter lag auf den Knieen vor seinem Lager. Er hatte
ihr die Linke überlassen, die sie immer wieder mit Küssen bedeckte. Zu
Häupten stand der würdige Pastor des Ortes. Er hielt die Hände über
die Kopflehne des Bettes gefaltet. Mit kurzen Pansen betete er laut, die
30 Stirn jedesmal auf seine Hände senkend.
Die kleine Emma und ich stellten auf einen Tisch zu Füßen des
Kranken die blühende Pflanze; wir stellten sie so. daß er sie ganz sehen konnte.
Zuweilen fuhr ein Wagen unten vorbei. Durchs geöffnete Fenster
klangen die Stimmen fröhlich spielender Kinder, und ein besonders helles
35 Stimmchen sang: „Laterne, Laterne, Sonne, Mond und Sterne!" und sang
diesen Vers immer wieder.
Ich hatte mich so gestellt, die kleine, mich ängstlich anschauende Emma
nicht loslassend, daß mich der Kranke nicht sah. Und während die Mutter