Full text: Neueste Geschichte von 1815 bis zur Gegenwart (Teil 3)

174 Die Revolution von 1848 und die darauf folgende Reaktion. 
Politik und jede selbständige Ansicht opferten, von Posten zu Posten zurückwichen und 
unter dem Druck der Inferiorität, in Furcht vor Frankreich und in Demut vor England 
im Schlepptau Österreichs Deckung suchten. Der König war nicht unempfänglich für 
diesen meinen Eindruck, aber nicht geneigt, ihn durch eine Politik im großen Stile ab- 
zuschütteln. ... Bei Besprechung des Vertrages vom 20. April schlug ich dem Könige 
vor, diese Gelegenheit zu benutzen, um uns und die preußische Politik aus der sekundären 
und. wie mir schien, unwürdigen Lage herauszuheben und eine Stellung einzunehmen, 
welche uns die Sympathie und die Leitung der deutschen Staaten gewonnen hätte, die 
mit uns und durch uns in unabhängiger Neutralität zu verbleiben wünschten. Ich hielte 
dies für erreichbar, wenn wir, sobald Österreich die Truppenaufstellung verlangte, freund- 
lich und bereitwillig darauf eingingen, aber die Aufstellung der 60000 und faktisch mehr 
Mann nicht bei Lissa, sondern in Oberschlesien machten, so daß unsere Truppen in der 
Lage seien, die russische oder österreichische Grenze mit gleicher Leichtigkeit zu überschreiten, 
namentlich wenn wir uns nicht genierten, die Ziffer 100000 uneingestanden zu über¬ 
schreiten. Mit 200000 Mann würde Se. Majestät in diesem Augenblick Herr der 
gesamten europäischen Situation werden, den Frieden diktieren und in Deutschland eine 
Preußens würdige Stellung gewinnen können. ... Der König war nicht unempfänglich 
für die überzeugte Stimmung, in welcher ich ihm die Sachlage und die Eventualitäten 
darstellte; er lächelte wohlgefällig und sagte im Berliner Dialekt: „Liebeken, das is sehr 
schöne, aber es is mich zu teuer. Solche Gewaltstreiche kann ein Mann von der Sorte 
Napoleon wohl machen, ich aber nicht." 
3. Der Ausgang des Streites um Neuenburg schädigte das Ansehen 
Preußens mehr, als die an sich unbedeutende Angelegenheit vermuten ließ. 
Vergeblich hatte Friedrich Wilhelm IV. die europäischen Mächte auf dem 
Pariser Kongreß an die Wiedererstattung des Fürstentums Neuenburg erinnert. 
Da erhielt der Streit um das Ländchen durch die verunglückte Erhebung der 
Neuenburger Royalisten eine ganz neue Wendung; 26 Anhänger des preußischen 
Königs waren von der Schweizer Bundesregierung als Rebellen eingekerkert 
worden und harrten nun ihrer gerichtlichen Aburteilung. Friedrich Wilhelm 
geriet darüber in äußerste Entrüstung; aber seine Kriegsdrohungen fruchteten 
nichts. Da rief er die Vermittlung Napoleons an, und der Kaiser der 
Franzosen benützte die Gelegenheit, sich als Schiedsrichter Europas aufzuspielen, 
sehr gern; nach seinem Ratschlage wurde der Streitfall 1857 dahin erledigt, 
daß die verhafteten Royalisten freigegeben wurden, Friedrich Wilhelm aber 
endgültig und ohne Entschädigung aus Neuenburg verzichtete. 
„Zieht man die Bilanz aus der Neuenburger Angelegenheit, so wird 
sich nicht verkennen lassen, daß sie wenig geeignet war, das Ansehen Preußens 
vor allem auch an den für die nationale Entwicklung wichtigsten Stellen Süd- 
Deutschlands zu fördern. Es war ein letzter Akt rein legitimistischer Politik, 
der sich zu der deutschen Einheitsfrage und der mit ihr unauflöslich verquickten 
Entfaltung des Liberalismus an sich fast indifferent zu verhalten schien. 
Dennoch machten sich die tiefen Zusammenhänge der Gesetze von Legitimismus 
und Territorialismus einerseits und andererseits Liberalismus und Einheits- 
idee auch hier in der Richtung geltend, daß das Verhalten der preußischen 
Krone lebhafter, nicht selten geradezu höhnender Kritik unterzogen wurde." 
(Lamprecht.)
	        
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