Die deutsche Auswanderung nach ihrem Wesen und ihrer Entwicklung. 109
das Gelingen der entworfenen Pläne als ziemlich sicher erscheinen. Wüßte
jeder Auswanderer, was ihn in der Fremde, jenseits des Weltmeeres,
erwartet, welche Summe von Mühen, Arbeit uud Entbehrungen er zu
durchringen hat, wie sich trotzdem Hnuger uud Elend an seine Fersen
heften, er würde die Heimat nicht leichten Herzens mit der oft so
trügerischen Fremde vertauschen!
Man hat wohl auch als Gruud für die Auswanderung Über-
völkernng angeführt; doch ist das Deutsche Reich gegenwärtig noch nicht
übervölkert, wenngleich einzelne Striche günstiger örtlicher Verhältnisse
wegen eine sehr dichte Bevölkerung aufweisen. Die deutsche Industrie und
der Ackerbau vermögen nicht nur eine Bevölkerung von 57 Millionen,
sondern wohl eine solche von 70 Millionen und mehr ganz gut zu
erhalteu.
3. Umfang und Zahlenverhältnisse der deutschen Auswanderung.
Je mehr die Auswanderung zunahm, desto mehr waren die betreffenden
deutschen Regierungen und Statistiker bemüht, sie nach Umfang und Ziel
näher zu ermitteln und die persönlichen Verhältnisse der Auswanderer
kennen zu lernen. Durch Reichsbeschluß vom Jahre 1871 wurde bestimmt,
daß in allen deutschen Einschiffnngshäfen Aufzeichnungen über die daselbst
stattfindende Auswaudererbeweguug vorgenommen werden sollten. Die
nach europäischen Ländern gerichtete Auswanderung ist von dieser Erhebung
ausgeschlossen. In Band II der Statistik des Deutschen Reiches ist die
Zahl der gesamten überseeischen deutscheu Auswanderung bis 1870 geschätzt:
im Jahrzehnt 1821/30 aus 8000 Personen
1831/40 „ 177 000
1841/50 „ 485 000
1851/60 „ 1130000
1861/70 „ 970000
„ „ 1871/80 „ 595151 „ genau ermittelt.
1881/90 „ 1342 723
1891/00 „ 437 940
im Zeitraum 1901/02 „ 39 997 „ „
Von 1821/02 auf 5185 811 Personen.
Rechnet man dazu noch die von 1871—1902 nach französischen Quellen
über Havre, nach holländischen Quellen über Rotterdam und Amsterdam
erfolgte deutsche Auswanderung, sowie nach den statistischen Angaben der
Vereinigten Staaten die Einwanderung vom Jahre 1886/1902, so ergibt
sich als Gesamtsumme der deutscheu Auswanderung seit 1821 eine Kopf-
zahl von reichlich 51/2 Millionen, die mit der Auswanderung nach
europäischen Ländern und anderen überseeischen Ländern (außer den Ver-
einigten Staaten) in den letzten drei Jahren dreist rund auf 6 Millionen
Personen veranschlagt werden kann. Die Anzahl der Frauen steht nicht
bedeutend hinter der Anzahl der Männer zurück. Die Auswanderer reisen
größtenteils in Familien von durchschuittlich 4 Personen. In den
Statistiken des Deutschen Reiches wird die Eiuwauderuug nach deutschen
Schutzgebieten uicht berücksichtigt, da Personen, die sich dorthin begeben,
nicht als Auswanderer im Sinne des Gesetzes über das Answandernngs-
wesen gelten.