246 Die Lösung der deutschen Frage.
erklärte bewegten Tones, daß er den neuen Titel annehme, und befahl dem
Reichskanzler, seine darüber aufgesetzte Willensmeinung zu verlesen. Die von
Bismarck verfaßte Urkunde war im Sinne eines Aufrufes an das deutsche Volk
gehalten: »Wir übernehmen die kaiserliche Würde in dem Bewußtsein der
Pflicht, in deutscher Treue die Rechte des Reiches und seiner Glieder zu
schützen, den Frieden zu wahren, die Unabhängigkeit Deutschlands zu stützen
und die Kraft des Volkes zu stärken. . . . Uns aber und unfern Nachfolgern
in der Kaiserkrone wolle Gott verleihen, allzeit Mehrer des Deutschen Reiches
zu sein, nicht in kriegerischen Eroberungen, sondern in den Werken des Friedens
auf dem Gebiete nationaler Wohlfahrt, Freiheit und Gesittung.«"1)
Anmerkung. Die den Franzosen im Frieden zu Frankfurt hauptsächlich aus
militärischen Gründen abgenommenen, ehemals deutschen Grenzländer (Elsaß und Lothringen)
wurden weder — wie manche Stimmen forderten — zu Baden noch zu Preußen
geschlagen, sondern dem Reiche als ein besonderer Bundesstaat, das „Reichsland", zu-
gefügt. Vorläufig — bis 1874 — übte im Namen des Reiches der Kaiser die Souveränität
im Reichslande aus (Einrichtung einer neuen Verwaltung, Oberpräsident von Möller).
1874 trat auch in Elsaß-Lothringen die Reichsverfassung in Kraft (Entsendung von
Abgeordneten — 10 Ultramontanen, 5 Protestlern — in den Reichstag); nur der
sogenannte Diktaturparagraph, der dem Oberpräsidenten bei Gefährdung der Sicherheit
besondere Machtbefugnisse zusprach, blieb einstweilen — bis 1902 — noch bestehen. Wie
Bismarck 1871 verkündet hatte, sollten die Bewohner des Reichslandes allmählich „durch
Gewährung eines größtmöglichen Maßes kommunaler und individueller Freiheit" für den
Gedanken der Zugehörigkeit ihrer Lande zum Reiche gewonnen werden. 1879 erhielt
das Reichsland eine neue Verfassung: kaiserlicher Statthalter, reichsländisches Ministerium,
Landesausschuß von 58 Mitgliedern, der mit beschließender Befugnis über den Staats-
haushalt und die Landesgesetzgebung abzustimmen hat.
Gegenwärtig, im Jahre 1911, beschäftigen sich Bundesrat und Reichstag mit der
Frage einer Reform der reichsländischen Verfassung.
§ 23. Übersicht über die wichtigsten Ergebnisse der innerpolitischen
Entwicklung des Deutschen Reichs seit 1871.
I. Der innere Ausbau der nationalen Einheit.
1. Die Reichsverfassung.
Mit der Gründung des Reiches war das jahrzehntelange Ringen
des deutschen Volkes um die Wiederherstellung der feit vielen Jahrhunderten
entbehrten nationalen Einheit zum Abschluß gelangt.
a. Die Form der neuen Einheit, der Charakter der Reichsverfassung,
entsprach der Art und Weise, wie das Einigungswerk zustande gekommen war;
das neue Reich war kein Einheitsstaat im Sinne der zentralistischen Tendenzen
der achtundvierziger Bewegung: durch Bundesverträge hatten sich die einzelnen
Staaten unter der Führung Prenßeus zum Norddeutschen Bunde zusammen-
geschlossen, und dessen Verfassung war dann abermals durch besondere Ver-
träge mit gewissen partikularistifchen Vorbehalten (f. Anm.) auf die süddeutschen
Staaten ausgedehnt worden. So war das neue Deutsche Reich kein Einheits¬
staat, sondern ein Bundesstaat, der unter möglichster Schonung der auf ber
') Ausführlicheres über die Verdienste Bismarcks um die Gründung des Reiches
bei Lenz a. a. O. S. 355ff.; über die Stellung König Wilhelms und des Kronprinzen
zur Kaiserfrage bei Mareks a. a. O. S. 334ff.; Bismarck a. a. O. II. Bd. S. 115ff.