64 Kolonisation Ostdeutschlands und Vorgeschichte Brandenburg-Preußens.
noch zustehenden Vollstreckungsgewalt eingebüßt; die dem Kaisertume
noch erhalten gebliebenen Rechte beschränkten sich in der Hauptsache auf Ver¬
leihung von Standeserhöhungen und Titeln sowie in einigen administrativen
Einwirkungen auf die Frankfurter Messe.
2. War das Reich somit ein „aus kaiserlich-monarchischer Vorzeit heraus¬
gewachsener, von ihr noch vielfach, doch wesentlich nur äußerlich abhängiger
Bund von Fürsten", so fehlte diesem staatlichen Gebilde doch auch
wieder das Hauptmerkmal föderativer Einheit: es gab nach den Be¬
stimmungen der Reichsverfassung keinen Punkt, in welchem sich der Partikula¬
rismus der Einzelstaaten der höheren Macht einer Zentralgewalt zu unter¬
werfen hatte.
a. Der Reichstag, der als die oberste Bundesbehörde galt, bot in
seiner schwerfälligen Organisation (vgl. I. Tl. § 74) und völligen Entschlu߬
unfähigkeit ein Bild kläglichsten Unvermögens. Bald konnte er nicht einmal
mehr als die Versammlung sämtlicher Stände des Reiches gelten; denn schon
in den sechziger Jahren des 17. Jahrhunderts erschienen die Fürsten nicht
mehr persönlich auf den Reichstagen, sondern ließen sich durch ihre meist mit
ganz unzulänglichen Vollmachten ausgestatteten Gesandten vertreten: der Reichs¬
tag war zu einem Kongreß vielfach recht fragwürdiger Diplomaten herabgesunken.
d. Bon einer Reichsgesetzgebung konnte unter solchen Umständen kaum
noch die Rede sein; die Landesgesetzgebung der Territorien wurde von seiten
des Reiches kaum jemals beeinträchtigt, mochte sie dem Interesse des Reiches
zuwiderlaufen oder nicht.
e. Auf dem Gebiete des Reichsfiuanzweseus war man nach all den
mißglückten Reformversuchen früherer Zeiten (vgl. I. Tl. §§ 43. 56. 57. 62) bei
einem oft recht drückenden System von Matrikularbeiträgen stehen geblieben.
Die vollständigste Leistungsunfähigkeit dieser Organisation offenbarte sich jedoch
darin, daß infolge des Mangels einer starken Bollstreckungsgewalt kein Reichsstand
— vornehmlich kein größerer — gezwungen werden konnte, eine vom Reichs¬
tag beschlossene Umlage für sich als bindend anzusehen. „Ein Beschluß des
Lüneburger Kreistages vom Jahre 1652 erklärte es »natürlicher Freiheit ganz
zuwider, daß einer durch sein Votum verordnen könne, was ein anderer geben
solle«, und dieser Anschauung schloß sich, namentlich unter der Einwirkung
Brandenburgs, der Reichstag des Jahres 1653 an. . . . Natürlich war es
unter diesen Umständen völlig unmöglich, eine kräftige Reichspolitik wie nach
außen, so nach innen zu entfalten." (Lamprecht.)
Anmerkung. Es war bezeichnend für die Tendenzen des habsburgischen Kaiser¬
tums, daß Brandenburg doch zum Heile des deutschen Volkes wirkte, indem es dem
Kaiser das Recht bestritt, durch Reichstagsbeschluß Steuern auflegen zu lassen (vgl. 8 9).
ck. Die Heeresverfassung des Reiches war noch immer nach den
Grundsätzen des längst verfallenen Lehnsstaates geordnet.
Im Falle eines Reichskrieges wurden die einzelnen Kontingente der
Reichsstände durch kaiserlichen Befehl ausgeboten. Ihr Zusammentritt erfolgte
niemals ohne wiederholte „kaiserliche Hortatorien und Exzitatorien", und da
in bezug auf Bewaffnung, Ausrüstung und Gliederung der Truppen keine
allgemein gültigen Bestimmungen existierten, ergab das Ganze dann „den be¬
trüblichen, noch heute im Gedächtnis der Nation fortlebenden Typ der Reichs¬
armee", an deren Dasein später die schmachvollen Ergebnisse des Reichskrieges
gegen Friedrich den Großen die vernichtendste Kritik üben sollten.