88 II. Das Aufkommen der Weltmächte an Stelle der Großmächte ic.
Dichtung. In der deutschen Dichtung der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts
traten die geistigen, die politischen und sozialen Strömungen dieser Zeit
kräftig hervor, besonders nach 1870. Formgewandt war O. von Redwitz
Spielhagen, der Dichter einer gefühlsseligen, frommen Romantik, während Spielhagen
in spannenden Romanen mit allzu rhetorischem Stil eine freiere Richtung
25. Scheffel, vertrat. Die Reihe der historischen Romane eröffnete V. Scheffel mit
seinem „Ekkehard". Die Begeisterung für deutsches Wesen fand ihren
F. Dahn. Ausdruck in Felix Dahns packendem Geschichtsroman „Ein Kampf um Rom",
®- »wag. in Freytags „Ahnen" und in W. Jordans großartiger Nibelungendich-
Kl Groth"' tun9; Die Versenkung in heimatliche Sonderart erquickte in Kl. Groths
Fr. Reuter „Quickborn" und Fritz Reuters gemüt- und humorvollen Erzählungen.
i8io-i874. Auch die tiefe Poesie der Stormschen Novellen wurzelt ganz im Heimat-
mZL 6oben; niä)t minber bie der innig warmen Erzählungen P. K. Roseggers,
L. Ganghofer. der herzbewegenden RomaneL. Ganghofers und der eigenartigen, poesievollen
G.Keller. Schöpfungen Gottfried Kellers nud W. Raabes. Während G. Ebers
die ägyptische Welt zu erschließen suchte, vermochte ohne Beziehung zur
Rob. Hamerlwgheimatlichen Scholle Rob. Hamerling mit glühender Phantasie antike
1830 1889. Kulturbilder in glänzenden Farben (Ahasver in Rom) und wunderbare
Bilder entlegener deutscher Geschichten und Landschaften (König von Sion)
zu entwerfen, doch nicht um ihrer selbst willen, sondern als Hinter-
grund für die poetische Ausgestaltung großer Menschheitsfragen. Ähnliches
A.Fr.v.Schack. gelang, Wenn auch nicht in solcher Geschlossenheit, dem edlen Ad. Fr. von
Schack in seinen „Nächten des Orients", wo er den aufsteigenden Gang
der Menschheit voll Glaubens an sie in farbenprächtigen Szenen schilderte.
P. Heyse. Paul Heyse huldigte in seinen meisterhaft erzählten Novellen der Erotik;
an großen Problemen versuchte er sich ohne Glück in einigen Romanen.
Die neue Zeit, die mit der Reichsgründung anbrach, gab auch der Dichtung
E. v. Wilden- ganz neue Anregungen. Emst von Wildenbruch schuf eine Reihe packender
6r"ch- geschichtlicher Trauerspiele voll flammender Begeisterung für Deutschland
und das Hohenzollernhaus. Mit der Energie seiner Sprache, Charaktere
und Handlung erstürmte er sich jedesmal den Erfolg, doch fehlte es bei
allem Streben nach Größe an Tiefe und innerer Wahrheit. In den
achtziger Jahren drang die realistische Strömung mächtig in das etwas
versandete Bett deutscher Dichtung. Ihre Fluten waren anfangs trübe
und wild und klärten sich langsam. Das lag teils an der Unreife und
unzulänglichen Begabung derer, die sich „das jüngste Deutschland"
nennen ließen, teils daran, daß diese ästhetische Strömung zugleich ganze
Klumpen unaufgelöster sozialpolitischer Gedanken mit sich führte. Mit der
G. Hauptmann. Klärung traten auch die stärkeren Talente hervor: im Drama Gerh. Haupt-
H- ©ubermann, mann und Herrn. Sudermann, jener schwankend zwischen einem Natura¬
lismus (Weber, Einsame Menschen), der die geschlossene Handlung um des
„Milieu" und der Charaktermalerei willen völlig preisgiebt, und einer Romantik,
die echt poetisch, aber durchaus undramatisch ist (Hanneles Himmelfahrt,
Versunkene Glocke), dieser ein hervorragender Bühnendichter, dem doch die
L-Anzengruber.reine tragische Wirkung versagt ist. Über beiden steht Ludwig Anzen-
grub er, der einen gesunden Realismus mit idealem Schwung, erschütternde
Tragik mit herzerquickender Komik vereinigt, zugleich ein Dialektdichter von