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gefüllt mit schönen, nagelneuen Goldstücken. Ein hoher, gebiete¬
rischer Greis mit weißem Haar und Bart erschien, wies auf das
Gold und sagte: „Nimm dir ein Stück davon und komme jeden
Tag wieder und hole dir eins; nimm aber nie mehr, es ist sonst
dein Unglück."
Vor Freude zitternd nahm er ein Goldstück, ließ es wohl¬
gefällig im Lichte funkeln und steckte es zu sich. Der Greis war
jedoch verschwunden. Von nun an glückte ihm alles. Täglich stieg
er in das Gewölbe hinab und nahm ganz gewissenhaft fest nur
ein Stück. Das Gold wurde auch richtig angewandt, und er konnte
sich nach und nach anschaffen, was zu einem tüchtigen Bauerngute
gehört. Ein Acker nach dem andern wurde angekauft und ein
schönes Stück Vieh nach dem andern. An Stelle seiner Hütte,
die er einreißen ließ, stand bald der stattlichste Bauernhof, den
es in der Gegend gab. In zwei Jahren hatte er an jedem Tag
sein Goldstück aus dem Kessel geholt, und war so zum reichen
Manne geworden. Warum konnte er sich noch nicht ganz glücklich
fühlen? Warum mußte ihn jetzt der Hochmut plagen? Seine Be¬
scheidenheit, der früher ein Goldstück so viel gegolten, verließ ihn.
„Warum soll ich denn nur stets ein lumpiges Stück nehmen, wo
ich doch Tausende nehmen könnte?" sagte er bei sich selbst, „lohnt
sich auch kaum der Mühe, nach einem Goldstück dort umher¬
zuklettern." Die Gier nach dem Golde erwachte je mehr, je stärker
in ihm, die Lust zur Arbeit und Tätigkeit jedoch verschwand all¬
mählich. „Was soll ich mich quälen, da meine Knechte und Mägde
allein fertig werden können," dachte er; „auch habe ich's ja nicht
nötig, ich darf ja nur zugreifen." Er schaffte sich ein schönes Reit¬
pferd an, auf dem er wohl mitunter einen Ritt machte und dabei
hochmütig auf die Leute niedersah, denen er vordem gleich ge¬
standen. Zu Hause lag er meistens auf seidenen Polstern, gähnte
und dehnte sich; ja wäre nicht der tägliche Gang nach dem Gold¬
stück gewesen, er hätte wohl in Tagen nicht sein Haus verlassen.
Oft hatte er auch schon daran gedacht, sich eine Frau zu nehmen,
damit ihm denn auch gar nichts fehle. Doch welche sollte er wählen?
Ein Bauernmädchen dünkte ihm viel zu gering; es müßte schon
eine vornehme Dame sein, die ihm gut genug wäre. — Wie denn
der Müßiggang den Menschen so häufig auf Abwege führt, so
-auch hier. Mit dem Einsammeln des Reichtums ging es ihm viel
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