Metadata: Die weite Welt (Schulj. 7 u. 8)

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Höhlen. Selten trug einer Schuh oder Stiefel, glücklich warr 
wer in Filzsocken oder weiten Pelzschuhen den elenden Marseb 
machen konnte. Vielen waren die Füsse mit Stroh umwickelt, 
mit Decken, Lappen, dem Felle der Tornister oder dem Filze 
von alten Hüten. Alle wankten auf Stöcke gestützt, lahm und 
hinkend. Auch die Garden unterschieden sich von den übrigen 
wenig, ihre Mäntel waren verbrannt, nur die Bärenmützen gaben 
ihnen noch ein militärisches Ansehen. So schlichen sie daher, 
Offiziere und Soldaten durcheinander, mit gesenktem Haupte, in 
dumpfer Betäubung. Alle waren durch Hunger und Frost und 
unsägliches Elend zu Schreckensgestalten geworden. 
Tag für Tag kamen sie jetzt auf der Landstrasse heran, in 
der Regel sobald die Abenddämmerung und der eisige Winter- 
nebel über den Häusern lag. Gespensterhaft war das lautlose 
Erscheinen der Franzosen, entsetzlich wurden die Leiden, welche 
sie mit sich brachten. Die Kälte in ihren Leibern sei nicht fort¬ 
zubringen, ihr Heisshunger sei nicht zu stillen, behauptete das 
Volk. Wurden sie in ein warmes Zimmer geführt, so drängten 
sie sich mit Gewalt an den warmen Ofen, als wollten sie hinein¬ 
kriechen; vergebens mühten sich mitleidige Hausfrauen, sie von 
der verderblichen Glut zurückzuhalten. Gierig verschlangen sie 
das trockene Brot, einzelne vermochten nicht aufzuhören, bis sie 
starben. Bis nach der Schlacht bei Leipzig lebte im Volke der 
Glaube, dass sie mit ewigem Hunger vom Himmel gestraft seien. 
Noch dort geschah es, dass Gefangene in der Nähe des Lazaretts 
sich die Stücke toter Pferde brieten, obgleich sie bereits regel¬ 
mässige Kost erhielten. Noch damals behaupteten die Bürger, 
das sei ein Hunger von Gott. Einst hätten sie die schönsten 
Weizengarben ins Lagerfeuer geworfen, hätten gutes Brot aus¬ 
gehöhlt, verunreinigt und auf dem Boden gekollert, jetzt seien 
sie verdammt, durch keine Menschenkost gesättigt zu werden. 
Überall in den Städten der Heerstrasse wurden für die 
Heimkehrenden Lazarette eingerichtet, und sogleich waren alle 
Krankenstuben überfüllt; giftige Fieber verzehrten dort die letzte 
Lebenskraft der Unglücklichen. Ungezählt sind die Leichen, 
welche herausgetragen wurden; auch der Bürger mochte sich 
hüten, dass die Ansteckung nicht in sein Haus drang. Wer von 
den Fremden vermochte, schlich deshalb nach notdürftiger Ruhe 
müde und hoffnungslos der Heimat zu. Die Buben auf der Strasse 
aber sangen: „Ritter ohne Schwert, Reiter ohne Pferd, Flücht¬ 
ling ohne Schuh, nirgends Rast und Ruh. So hat sie Gott ge¬ 
schlagen mit Mann und Ross und Wagen!“ und hinter den 
Flüchtigen gellte der höhnende Ruf: „Die Kosaken sind da!“ 
Dann kam in die flüchtige Masse eine Bewegung des Schreckens, 
und schneller wankten sie zum Tore hinaus. 
Gustav Freytag:.
	        
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