220 Drittes Buch.
Venedig bei dieser Verfassung groß und mächtig, ja der erste Handels-
staat der Welt. Um 1400 gehörte der Republik das noch jetzt so genannte
venetiamsche Gebiet, ferner Dalmatien, Morea, Candia, Cypern und
viele Plätze auf der Türkisch-Griechischen Halbinsel. Es war keine
leere Ceremonie, wenn alljährlich am Himmelfahrtstage der Doge in
einem prächtigen Schiffe, dem Bncentanr, Bucentoro [butfchentoro],
in das Adriatische Meer hinausfuhr, einen Ring hineinwarf und sich
und in seiner Person Venedig mit demselben immer von neuem der-
mahlte. Auf allen südlichen Meeren flatterte das Banner des geflügelten
Löwen von St. Marcus; denn diesen Evangelisten, der einen Löwen
zum Attribut hat, wählte sich die Republik zum Schutzpatron. Dieselben
Umstände, die Genua sinken machten, ließen auch Venedigs Stern
erbleichen. Der Staat sank und starb schon durch die letzten Jahrhun-
derte hindurch. Als Bonaparte in Ober-Italien die Oesterreicher
bekriegte und im venetianischen Gebiete sich ein Aufstand gegen die
Franzosen zeigte, schlug seine Todesstunde 1797. Nach mannigfachem
Wechsel blieb sein damaliges Gebiet von 1814 bis 1866 Bestandtheil
der Oesterreichischen Monarchie.
Die Stadt Venedig hat eine in ihrer Art einzige Lage, eine
Meile vom Festlande, auf einer Menge von Inseln, die jedoch nur durch
schmale Canäle getrennt sind. Der größte derselben. Canale grande
skanale grande], durchzieht die Stadt in Form eines L; über ihn führt
auch die schönste der 450 Brücken, der Ponte Rialto. So scheint
dem von O. Kommenden die Stadt mit ihren Thürmen und Marmor»
Palästen geradezu aus den Wogen zu steigen. Die Häuser auf Pfählen,
aber in der Tiefe auf festem Grunde. Im Innern kann man zwar
vermittelst schmaler, an den Häusern hinlaufender Stege fast zu jeder
Stelle trockenen Fußes gelangen (Wagen und Pferde sind hier nicht zu
gebrauchen), doch bedient man sich meistens der langen, schwarz ange-
strichenen Gondeln, welche der Gondoliere auch im größten Gedränge
zu lenken versteht. Der Glanzpunkt der ganzen Stadt mit dem größten
Menschengewühl ist der mit Bogengängen umgebene und mit großen
Quadern gepflasterte Marcusplatz. Dicht daran stößt ein kleiner Platz,
die Piazetta [ptabsetta], die unmittelbar von den Lagunen bespült
wird. Die Seiten dieser Plätze sind lauter Prachtgebäude, z. B. die alte,
wunderbar gebaute, im Innern überreiche Marcuskirche, der sehr
hohe von der Kirche (wie in Italien oft) getrennte Glockenthurm, Cam-
panile; der alte Do gen Palast; das Staatsgefängniß; nnter den
mit Blei gedeckten Dächern die Vleikammern. Auf dem Portal der
Marcuskirche die vier berühmten ehernen Rosse, ein Werk des griechischen
Künstlers Lysippus, die ursprünglich in Chios aufgestellt, nach Rom
gebracht, von Constantin nach Konstantinopel geschafft, 1204 von den
Venetianern für die Stadt erbeutet, 1797 von Napoleon entführt worden
und 1815 wieder nach Venedig zurückgeführt sind. Eine andere Merk--
Würdigkeit ist das riesenhafte Arsenal. Gegen früher ist Venedig natür-
!ich öde und todt, aber es zählt doch wieder 130,000 E. Neues Leben
Hat der Stadt die Eisenbahn gebracht, welche vermittelst eines großartigen
Brückenbaues über die Lagunen das feste Land erreicht. Von der Meer-
seite her droht Gefahr durch die steigende Versandung und Verschlem-
mung der Lagunen mit den von den Flüssen herbeigeführten Sinkstoffen
<S. 208). Schon im vorigen Jahrhundert führte man gegen die See