Lamprecht: Die Urzeit Deutschlands.
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Hier vornehmlich ergeben zahlreiche Funde jene herrlichen Steinwerk-
zeuge. Messer und Sägen. Meißel und Äxte, Beile und Schaber zum Gerben
der Felle, die sich durch zierliche Bearbeitung den besten Erzeugnissen aller
bisher bekannten Steinzeiten einreihen. Hier werden Töpfe ausgegraben
mit eingeritztem und weiß ausgefülltem Ornament, deren geschmackvolle Form
überrascht, obgleich sie ohne Drehscheibe hergestellt wurden. Auch sonst fehlt
es nicht am Sinn für primitiven Luxus; man trug Schmuckstücke aus
Knochen und Bernstein; in kunstvoll gewebte und gefärbte Wollgewande
gekleidet, schritt man einher, und die Krieger erschienen schon wohlgerüstet
für Abwehr und Angriff. Bernstein ward auch zu Röhren und Knöpfen,
zu Scheiben und Ringen, zu Hängestücken in Form von Äxten und Pfeilen,
von Schiffchen und menschlichen Figuren verarbeitet und ging im Tausch-
Handel durchs Land.
Im übrigen waren die materiellen Grundlagen des Lebens einfach;
von gezähmten Tieren waren wohl nur Pferd und Rind, Schaf und Schwein,
vielleicht auch die Ziege bekannt; die Hauptnahrung bestand noch in den
Ergebnissen der Jagd und des Fischfangs; Ackerbau ward schwerlich schon in
größerer Ausdehnung geübt, obgleich steinerne Handmühlen gefunden werden.
Über den Charakter der sozialen und geistigen Kultur gestatten die
Gräber nach Anlage und Befund nur wenige Vermutungen. Es ist die
Zeit der Dolmen, freistehender Grabkammern aus großen Steinblöcken,
und der Ganggräber, einer Dolmenart mit übergeworfenem Erdhügel und
kellerartigem Eingang: beides Formen, deren Bauart und Größe sie zu
Massengräbern sür fünfzig, ja bis zu hundert Leichen bestimmt. Der Gedanke
liegt nahe, daß sie von je einem Geschlechte, der niedersten Gruppe natür¬
licher nationaler Gliederung, gemeinsam errichtet und benutzt wurden. Die
einzelne Leiche aber ward in ihnen oder auch in geringeren Anlagen, den
sogenannten Steinkisten, unverbrannt, in sitzender oder liegender Stellung
bestattet, und die Beigaben deuten auf den Glauben an eine sinnlich, dem
Erdenleben entsprechend gedachte Unsterblichkeit.
Dies germanische Steinzeitalter ward schon früh von einer Bronze-
knltur abgelöst, während die Gegenden östlich der Weichsel, das heutige
Westpreußen, Ostpreußen und die baltischen Provinzen, sowie auch die Land-
schaffen Posens und Schlesiens noch lange von einer primitiven Steinzeit
beherrscht blieben, die erst durch das Vordringen der Hallstattkultur mit
ihrem Bronze- und Eisengebrauch zugleich erschüttert ward.
Literatur: Fubse, Die deutschen Altertümer. Sammlung Göschen. —- Hörnes,
Urgeschichte der Menschheit. Sammlung Göschen. — Steinhausen, Germanische Kultur
in der Urzeit. Leipzig, Teubner. — Arnold, Deutsche Urzeit. Gotha. 3. Aufl. 1881.
— Gutsche und Schnitze. Deutsche Geschichte von der Urzeit bis zu den Karolingern.
2 Bde. (Bibliothek deutscher Geschichte, herausgegeben von Zwiedineck-Sudeuhorst. Stutt-
gart, Cotta.) — Streng wissenschaftlich: Müllenhoss. Deutsche Altertumskunde. Berlin
1883—92. — Schräder, Sprachvergleichung und Urgeschichte. Jena 1890.