102 Zweiter Abschnitt. Geschichte des Mittelalters.
und lösen, er kann daher vielmehr auf Erden eines jeden Güter neh-
men und geben nach Verdienst. Diese kirchlichen Weltherrschafts-
Ideen erfüllten die Seelen der Menschen im Mittelalter, und für
die Durchführung derselben kämpfte Gregor, „ein Heros an der Spitze
eines Reiches von Priestern", mit der damals furchtbaren Waffe des
Bannstuchs, wie mit politischen Waffen; er kämpfte unbeugsam und
schonungslos gegen weltliche Tyrannei für geistliche, mit sittlicher
Strenge und in voller Überzeugung von der Wahrheit seines
Strebens.
Das Verbot der Laieninvestitur, das Heinrich IV. nicht achtete,
mußte zu einem Kampfe zwischen Papsttum und Kaisertum
führen. Der Papst forderte den König zur Kirchenbuße wegen
Übertretung der Kirchengesetze auf und lud ihn wegen unsittlichen Le-
benswandels und Tyrannei gegen die Sachsen vor ein päpstliches Sit-
tengericht. Der tief entrüstete Heinrich ließ durch eine Versammlung
1076.deutscher Bischöfe die Absetzung des Papstes aussprechen und kün-
digte ihm diese durch ein leidenschaftliches Schreiben an. Gregor ant-
wortete mit Bann und Absetzung des Königs, und er fand in
den nach Souveränetät aufstrebenden deutschen Fürsten Bundesgenossen
in der Bekämpfung der Königsmacht. Die Fürsten beschlossen auf
einer Versammlung zu Tribur des Königs Absetzung, falls er nicht
binnen Jahresfrist die Lösung vom Banne erlange, und übergaben seine
Sache der Entscheidung des Papstes auf einem künftigen Reichstage zu
Augsburg. Da entschloß sich Heinrich IV. unerwartet zu einer geheimen
1077. Bußfahrt nach Rom, um nach geleisteter Kirchenbuße vom Papste per-
sönlich Lossprechung vom Banne zu erwirken. Er zog im grim-
migsten Winter auf ungewöhnlichen, ungangbaren Wegen über eisige
Berge, über den Moni: Cenis nach Italien, unter gefährlichen Müh-
salen, von wenigen geleitet, aber von seiner Gemahlin mit aufopfernder
Treue begleitet. Auf die Nachricht von der unerwarteten Ankunft des
Königs in Italien suchte der auf der Reise nach Augsburg begriffene
Gregor in dem Schlosse der ihm ganz ergebenen Markgräfin Mathilde
von Toskana, in Canossa, Schutz. Hier, innerhalb der zweiten
Schloßmauer, erschien drei Tage hintereinander der deutsche König als
Büßender und wurde erst am vierten Tage vor das Angesicht des
Papstes gelassen. Gegen das Gelöbnis, daß er sich dem Schiedsrichter-
sprnche des Papstes unterwerfen wolle, wurde er vom Banne losge-
sprachen. Mit dem Stachel tiefster Entrüstung im Herzen schied Heinrich
von dem Orte der tiefsten Demütigung.
Heinrichs IT. fernere Kämpfe. Heinrich V. (1106—25). Ausgang des
Investiturstreits.
§ 71. In Deutschland wählten des Königs Feinde den Herzog
Rudolf von Schwaben zum Gegenkönig; Heinrich gelang es,
einen Gegenpapst aufzustellen, und Deutschland verfiel infolgedessen