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Die Neuzeit.
Rußland wurde die erste Macht des Nordens, und allmählich drang
europäische Kultur ein, mehr durch die Erwerbung der Ostseeprovinzen
und die Einwanderung von Ausländern als durch die Reformen Peters I.,
dem der Senat, die höchste Reichsbehörde, die Ehrenbezeichnungen „der
1725. Große" und „Vater des Vaterlandes" verlieh. Er starb 1725.
Seine Gemahlin Katharina I-, die mit Hilfe des Generals Menschikow den
Thron einnahm und sich von ihm leiten ließ, regierte nur kurze Zeit, ebenso die nächst-
folgenden Herrscher. 1741 wurde Peters I. Tochter Elisabeth Zarin.
§ 126. Die Philosophie und die Aufklärung.
1. Beginn der modernen Philosophie. Während im staatlichen und
gesellschaftlichen Leben der meisten Völker von Freiheit noch wenig zu
spüren war, ergriff der Geist freier Forschung, der sich im 16. Jahrhundert
gegen die alte Kirche aufgelehnt hatte, die Philosophie, um von hier aus
der Freiheit auf anderen Lebensgebieten die Wege zu ebnen. Als Be-
gründet der modernen, kritischen Philosophie gilt der Franzose Descartes
(Cartesius), der sich zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges in Holland
niederließ und nachher noch ein Jahr am Hofe der Königin Christine von
Schweden lebte. Er geht aus vom Zweifel an allem und gelangt dabei
zu dem unzweifelhaft richtigen Satze: „Cogito, ergo sum" (Ich denke, also
bin ich). Hierauf baut er sein System auf.
Was ich mit derselben Sicherheit erkenne wie den Satz: „Cogito, ergo sum",
muß wahr sein. Dazu 'gehören alle mathematischen Sätze (Descartes war hervor-
ragender Mathematiker). Unter den Ideen, die wir in uns vorfinden, ist die höchste
die eines vollkommenen Wesens, die Idee Gottes. Nicht die menschliche Vernunft
kann die Ursache dieser Idee sein, sondern nur Gott selbst, weil sonst die Wirkung
größer wäre als die Ursache. Auch die Körperwelt, die Schöpfung, besteht nicht bloß
in unserer Vorstellung, sondern in Wirklichkeit, weil Gott in seiner Wahrhaftigkeit nicht
täuschen kann. Das Verhältnis zwischen Geist und Materie oder denkender und aus-
gedehnter Substanz faßt Descartes streng dualistisch, so daß nach seiner Ansicht beide
nicht aufeinander einwirken können; den Zusammenhang zwischen leiblichen und geistigen
Erscheinungen erklärt er durch eine fortwährende Mitwirkung Gottes.
Der Holländer Spinoza, der aus einer jüdischen, aus Portugal
eingewanderten Familie stammte, gelangte nach dem Studium der Werke
Descartes' zu einem reinen Pantheismus (der die Einheit Gottes mit
dem Weltall behauptet).
Spinozas Lehre ruht auf den Grundbegriffen Substanz, Attribut und Modi-
fikation. Substanz ist, sagt er, was zu seiner Existenz keines anderen bedarf. Es
kann demnach nur eine Substanz geben, und zwar nur eine unendliche (Gott). Sie
erscheint dem Menschen unter den Attributen des Denkens und der Ausdehnung (Geist
und Materie). Alle Erscheinungen in der Welt sind nur Modifikationen (endliche
Darstellungsformen) der einen Substanz.
Die folgenden Philosophen suchten eine Vermittlung des Gegensatzes
zwischen Geist und Materie, und zwar bemühten sich die englischen und
französischen, den Geist aus der Materie, die deutschen, die Materie aus
dem Geist zu erklären. So trat dem englisch-französischen Realismus
(Materialismus) der deutsche Idealismus gegenüber.