Full text: Von der Zeit Karls des Großen bis zum Tode Friedrichs des Großen (Teil 2A)

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Das Mittelalter. 
§ 87. Die Kunst des gotischen Stils. 
1. Der gotische Baustil. Von den Geistlichen ging die Pflege der 
kirchlichen Baukunst auf die Bürger über. Unter ihren Händen bildete 
sich gegen Ende des 12. Jahrhunderts im nördlichen Frankreich aus dem 
romanischen Stile der gotische*) oder Spitzbogenstil. Nach Deutschland kam 
er in der ersten Hülste des 13. Jahrhunderts und gedieh hier durch die sest 
geordneten Genossenschaften der Maurer und Steinmetzen, die Bauhütten, 
zu seiner höchsten Vollendung. In ihnen erbten sich die Erfahrungen und 
Geheimnisse der Kunst von Geschlecht zu Geschlecht fort, und die Bauformen 
erhielten ein einheitlicheres Gepräge als zur romanischen Zeit. 
Der Spitzbogen kann übrigens nicht allein als wesentliches Zeichen des gotischen 
Stils angesehen werden, da er auch schon bei romanischen Bauten vorkommt. Das 
Charakteristikum der gotischen Baukunst ist vielmehr dies, daß sie die Seitenwände 
der Grundmauern in große Lichtöffnungen (Fenster) auflöst. Dadurch geht das ge- 
Ichlossene, burgartige Aussehen der romanischen Kirche verloren, und es wird alles 
leicht hochstrebend und zierlich. — Die gotischen Kirchen zeigen den Hauptunterschied 
zwischen Renaissance und deutschem Stil. Während die Renaissance das Verhältnis 
der Höhe zur Breite in der Ausdehnung des Baues nie übertreibt (Harmonie der 
einzelnen Teile und des Bauganzen), hat die Gotik nichts mit dieser Harmonie ge- 
mein Oft erscheinen durch die gewaltige Höhe die großen gotischen Mittelschiffe 
der Kirchen wie lange, enge Schluchten mit hohen Steilwänden. 
Das spitzbogige Kreuzgewölbe ermöglicht Rechtecke von beliebiger Breite 
als Grundfläche. Die Rippen treten als wichtigster Teil des Gewölbes hervor, 
während das Mauerwerk mehr zur Ausfüllung dient. Wie überall das Streben 
herrscht, die Masse zu gliedern und gleichsam zu vergeistigen, so sind auch die Pfeiler 
und Rippen gegliedert. Das Kapitäl ist ein loser Blätterschmuck. An den Seiten- 
wänden des Mittelschiffes folgen aufeinander: Arkaden, Triforien, Fenster. 
Diese sind durch Pfosten und Maßwerk gegliedert. Der spitzbogig gewölbte Chor 
ist vielseitig, gewöhnlich fünf- oder siebenseitig, und hat oft einen Umgang und einen 
Kapellenkranz. 
Der Drnck der Gewölbe wird nach außen abgeleitet durch Strebebogen und 
Strebepfeiler. Die reich verzierte Fassade hat gewöhnlich zwei Türme. Der Turm 
besteht in der Regel aus einem viereckigen Unterbau, einer achteckigen Fortsetzung 
und einer achteckigen schlanken Pyramide in durchbrochener Arbeit mit Krabben und 
Kreuzblume. 
Zu den schönsten Denkmälern des gotischen Kirchenbaues gehören 
der Cölner Dom, das Ulmer, das Straßburger, das Freiburger Münster 
und der Stephansdom in Wien. Unter den norddeutschen Backstein- 
bauten, deren Einfachheit durch das Material bedingt ist, nimmt die 
Marienkirche in Lübeck einen hervorragenden Platz ein. In Frankreich 
ragen hervor die Kathedralen von Reims und Amiens und die Notre- 
Dame in Paris. 
*) Gotisch wurde er zuerst von dem ersten Kunsthistoriker der Renaissance, von 
dem Italiener Vasari, genannt, der das Wort in der Bedeutuug „barbarisch" ge¬ 
brauchte. So außer der Harmonie liegend erschien ihm der gotische Stil.
	        
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