78
Das Mittelalter.
§ 87. Die Kunst des gotischen Stils.
1. Der gotische Baustil. Von den Geistlichen ging die Pflege der
kirchlichen Baukunst auf die Bürger über. Unter ihren Händen bildete
sich gegen Ende des 12. Jahrhunderts im nördlichen Frankreich aus dem
romanischen Stile der gotische*) oder Spitzbogenstil. Nach Deutschland kam
er in der ersten Hülste des 13. Jahrhunderts und gedieh hier durch die sest
geordneten Genossenschaften der Maurer und Steinmetzen, die Bauhütten,
zu seiner höchsten Vollendung. In ihnen erbten sich die Erfahrungen und
Geheimnisse der Kunst von Geschlecht zu Geschlecht fort, und die Bauformen
erhielten ein einheitlicheres Gepräge als zur romanischen Zeit.
Der Spitzbogen kann übrigens nicht allein als wesentliches Zeichen des gotischen
Stils angesehen werden, da er auch schon bei romanischen Bauten vorkommt. Das
Charakteristikum der gotischen Baukunst ist vielmehr dies, daß sie die Seitenwände
der Grundmauern in große Lichtöffnungen (Fenster) auflöst. Dadurch geht das ge-
Ichlossene, burgartige Aussehen der romanischen Kirche verloren, und es wird alles
leicht hochstrebend und zierlich. — Die gotischen Kirchen zeigen den Hauptunterschied
zwischen Renaissance und deutschem Stil. Während die Renaissance das Verhältnis
der Höhe zur Breite in der Ausdehnung des Baues nie übertreibt (Harmonie der
einzelnen Teile und des Bauganzen), hat die Gotik nichts mit dieser Harmonie ge-
mein Oft erscheinen durch die gewaltige Höhe die großen gotischen Mittelschiffe
der Kirchen wie lange, enge Schluchten mit hohen Steilwänden.
Das spitzbogige Kreuzgewölbe ermöglicht Rechtecke von beliebiger Breite
als Grundfläche. Die Rippen treten als wichtigster Teil des Gewölbes hervor,
während das Mauerwerk mehr zur Ausfüllung dient. Wie überall das Streben
herrscht, die Masse zu gliedern und gleichsam zu vergeistigen, so sind auch die Pfeiler
und Rippen gegliedert. Das Kapitäl ist ein loser Blätterschmuck. An den Seiten-
wänden des Mittelschiffes folgen aufeinander: Arkaden, Triforien, Fenster.
Diese sind durch Pfosten und Maßwerk gegliedert. Der spitzbogig gewölbte Chor
ist vielseitig, gewöhnlich fünf- oder siebenseitig, und hat oft einen Umgang und einen
Kapellenkranz.
Der Drnck der Gewölbe wird nach außen abgeleitet durch Strebebogen und
Strebepfeiler. Die reich verzierte Fassade hat gewöhnlich zwei Türme. Der Turm
besteht in der Regel aus einem viereckigen Unterbau, einer achteckigen Fortsetzung
und einer achteckigen schlanken Pyramide in durchbrochener Arbeit mit Krabben und
Kreuzblume.
Zu den schönsten Denkmälern des gotischen Kirchenbaues gehören
der Cölner Dom, das Ulmer, das Straßburger, das Freiburger Münster
und der Stephansdom in Wien. Unter den norddeutschen Backstein-
bauten, deren Einfachheit durch das Material bedingt ist, nimmt die
Marienkirche in Lübeck einen hervorragenden Platz ein. In Frankreich
ragen hervor die Kathedralen von Reims und Amiens und die Notre-
Dame in Paris.
*) Gotisch wurde er zuerst von dem ersten Kunsthistoriker der Renaissance, von
dem Italiener Vasari, genannt, der das Wort in der Bedeutuug „barbarisch" ge¬
brauchte. So außer der Harmonie liegend erschien ihm der gotische Stil.