Full text: [Teil 1, [Schülerband]] (Teil 1, [Schülerband])

V. Garten, Heide, Feld und Wald — des Landmanns liebster Aufenthalt. 247 
3. Die Lerche schwingt sich in die Luft; 
das Täublein fleucht aus seiner Kluft 
und macht sich in die Wälder. 
Die hochbegabte Nachtigall 
ergötzt und füllt mit ihrem Schall 
Berg, Hügel, Thal und Felder. 
4. Die Glucke führt ihr Völklein aus; 
der Storch baut und bewohnt sein Haus; 
das Schwälblein ätzt die Jungen. 
Der schnelle Hirsch, das leichte Reh 
ist froh und kommt aus seiner Höh 
ins tiefe Gras gesprungen. 
5. Die Bächlein rauschen in dem Sand 
und malen sich und ihren Rand 
mit schattenreichen Myrten; 
die Wiesen liegen hart dabei 
und UNingen ganz vom Lustgeschrei 
der Schaf' und ihrer Hirten. 
6. Die unverdroßne Bienenschar 
fleucht hin und her, sucht hier und da 
ihr' edle Honigspeise; 
des süßen Weinstocks starker Saft 
bringt täglich neue Stärk' und Kraft 
in seinem schwachen Reise. 
7. Der Weizen wächset mit Gewalt; 
darüber jauchzet jung und alt 
und rühmt die große Güte 
des, der so überflüssig labt 
und mit so manchem Gut begabt 
das menschliche Gemüte. 
8. Ich selber kann und mag nicht ruhn; 
des großen Gottes großes Thun 
erweckt mir alle Sinnen. 
Ich singe mit, wenn alles singt, 
und lasse, was dem Höchsten klingt, 
aus meinem Herzen rinnen. 
9. Ach, denk' ich, bist du hier so schön, 
und läßt du's uͤns so lieblich gehn 
auf dieser armen Erden; 
was will doch wohl nach dieser Welt 
dort in dem reichen Himmelszelt 
und güldnen Schlosse werden? 
10. O, wär' ich da! O, ständ' ich schon, 
ach, süßer Gott, vor deinem Thron, 
und trüge meine Palmen: 
so wollt' ich nach der Engel Weis' 
erhöhen deines Namens Preis 
mit dausend schönen Psalmen! 
P. Gerhardt. 
201. Ein Brief über einen Regen. 
Lieber Vetter! 
Hiermit füge ich Dir zu wissen, daß unser Herrgott uns nach langem 
Warten heute mit einem gnädigen Regen heimsuchte. Seit einer Stunde 
regne's in hellen Güssen und jetzt noch immerfort, daß das Land 
dampft. Ich bin schon zehnmal in den Garten gelaufen zu sehen, wie 
alles sich in die Höhe gerichtet hat und frisch und fröhlich steht, und 
möchte es immer wieder aufs neue thun, möchte sogar, wie in meinen 
jungen Jahren, vor Freuden meinen Rock ausziehen und mich beregnen 
lassen, wenn's für meinen grauen Kopf noch paßte. Denn was soll ich 
lun in der Stube anfangen? Den 103. Psalm habe ich schon durch; 
aber es regnet immer fort! — Ich weiß nichts anderes, als ich setze 
mich hin und schreibe einen Brief an Dich, damit ich nur meine Freude 
so etwas ausweiten kann. — 
Ihr Städter wißt eigentlich gar nicht, was ein Regen ist. Wenn 
bei Euch unser Herrgott seinen Brunnen aufschließt, so spannt ihr den 
Paraplu (Regenschirn) auf, daß Euch kein Tropfen auf den Leib kommt, 
Und geht wie die Nürnberger drunter weg. Dazu läuft's von Eurem 
Steinpflaster so rasch ab, als es gekommen ist, und nach ein paar 
Stunden sieht kein Mensch mehr, daß unser Herrgott dagewesen ist. 
Was laßt denn die Erde bei Euch für allerlei grünes Kraut aufgehen? 
Höchstens habt ihr eine halbe Mandel Blumentöpfe im Fensterbrette,
	        
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