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442 VI. Bildende Kunst.
und ihren Werkzeugen einen Widerstand entgegenseht und den werk¬
tätigen Willen wachruft. Das Modellieren in weichem Ton gilt uns
nicht als Werkarbeit, sondern als Kunstarbeit, eine Ergänzung des
Zeichnens, eine Schule für die freie, die darstellende Kunst.
Daß jedes Material im Unterricht echt sei, soll sich von selbst ver¬
stehen. Man lehre falschen Schein durchschauen und mißachten, wie
sehr er auch blenden mag. Man dulde kein Papier, das wie Leder
oder Leinwand aussieht. Das Polz übermale man nicht mit deckenden
Farben, sondern lasse es in seiner angeborenen Schönheit; man lehre
die Reize der Oberfläche, das Spiel der Maserung schätzen; selbst
farbige Beize wende man nur mit Vorsicht an. Meisterinnen in der
Kenntnis und künstlerischen Auswahl der Stoffe sollten die Lehrerinnen
unserer Mädchenschulen sein; sie sollten unermüdlich Gutes und Neues
heranschaffen, um den Sinn für stoffliche Qualität zu wecken, den die
Frauen unseres Volkes verloren haben.
Die zweite Grundlage aller Werkkunst ist die gediegene Arbeit.
Nicht die Lust am Schmücken, sondern der Wille zur Gediegenheit ist
im neunzehnten Jahrhundert abhanden gekommen. Ehrliche Arbeit ist
die beste Schule kunstgewerblicher Gesinnung. Man dulde keinerlei
Pfuscherei in der Schülerwerkstatt, auch wenn die Eltern sie bewundern.
Lieber gar keine Arbeit als schlechte.
Was das Kind aus der Werkstatt mitnimmt, das sollte es selber
gemacht haben, von unten bis oben, mit allen Zutaten. Fertige Bretter
oder Kästchen zu beschnihen ist kein handwerkliches Verdienst. Das
Mädchen, das ein Päubchen oder Kissen bestickt und es nicht selber
zuschneiden kann, sollte das Sticken aufgeben und Schneidern lernen.
Nicht die zierenden, sondern die aufbauenden Techniken sind entscheidend
für Frauen und Männer. Mehr Konstruktion, weniger Dekoration.
Die dritte Grundlage ist die Zweckmäßigkeit. Alle Werkkunst will
ja ein Notwendiges zum Schönen gestalten; das ist ihr Ursprung und
ihr Wesen. Den uralten Sinn für die Sachlichkeit hat das neunzehnte
Jahrhundert -ausgerodet. Es tut uns bitter not, ihn wieder zu pflanzen
in unseren Kindern. Pier fließt der Jungbrunnen aller Handwerkskunst.
Wir wollen deshalb jedes Stück, das die Kinder aus ihrer Werk¬
statt mitnehmen, zuerst fragen, ob es für irgend einen vernünftigen
Zweck gebraucht werden kann, in der Wohnstube oder in der Küche,
als Kleidungsstück oder als Spielzeug. Alles Überflüssige ist Gift für
die kunstgewerbliche Gesinnung. Wie ein Krebs frißt heute die Sucht
zum Tand an alt und jung, an reich und arm. Wir nähren diesen
Feind, wenn wir die Zeit unserer Kinder mit nichtssagenden Spielereien