Object: Lehrbuch der Geographie für die mittleren und oberen Klassen höherer Bildungsanstalten sowie zum Selbststudium

§. 29. Die Sprachverschiedenheiten. 93 
-als Tochtersprachen im Laufe der Zeit aus einer Muttersprache ent¬ 
standen, die dann verschwunden ist, etwa wie der weiße Lichtstrahl sich 
dnrch Brechung in seine Farben auflöst. Unsere Kenntnis von den 
Sprachen der Erde ist noch zu gering, und die Entwickelung der Lin¬ 
guistik (Sprachvergleichung) noch zu kurz, als daß die Zahl dieser 
Sprachstämme sich mit Sicherheit schon angeben ließe. Folgende 8 sind 
die hauptsächlichsten: 1) der indoeuropäische Sprachstamm, 2) der 
semitische, 3) der chinesische, 4) der tatarisch-finnische, 5) der 
malayische, 6) der amerikanische, 7) der afrikanische, die Neger¬ 
sprachen umfassend, von welchem wahrscheinlich 8) der südafrikanische 
wird getrennt werden müssen. Ob es einer späteren Zeit möglich sein 
wird, diese Sprachstämme auf eine Ureinheit zurückzuführen, oder ob 
wir hier vor einer Erscheinung stehen, die, wie ein Wunder unerklärt, 
den Gegnern des einheitlichen Ursprungs des Menschengeschlechts eine 
mächtige Waffe in die Hand gibt, darüber läßt sich keine Meinung 
äußern. Die Zahl der Sprachen anzugeben, ist sehr schwer, weit die 
Grenze zwischen Sprache und Dialekt so schwer zu ziehen ist; das 
Holländische z. B. gilt wohl, weil es eine besondere Literatur entwickelt 
hat, und seine Träger sich von den deutschen Stammesbrüdern geschichtlich 
abgesondert haben, für eine besondere Sprache und ist doch nur ein 
Dialekt der deutschen Sprache. Man zählt etwa 800 Sprachen, von 
denen über 400 auf Amerika kommen. Die englische Bibelgesellschaft 
hat die Bibel in 190 Sprachen übersetzen und drucken lassen, und für 
viele Sprachen ist die Bibelübersetzung das einzige Litemturproduct. 
Bei dem gesteigerten Völkerverkehr werden diejenigen Sprachen, die nur 
•ein kleines Areal einnehmen und feine selbständige Literatur schaffen 
können, bald zu Grunde gehen. „Wie die Wälder den Reben und 
mehltragenden Halmen größtenteils weichen mußten, so werben nur 
solche Sprachen bes Feldes Meister werben, bie nährenbe Geistesfrucht 
gebracht haben." Nach wenig Generationen wirb man auf allen Inseln 
ber Sübsee nur englisch, in ganz Sibirien nur russisch reben. 
Die Verbreitung ber Sprachstämme über bie Erbe unb ihre Unter¬ 
abtheilungen werben wir im speciellen Theile kennen lernen. 
Buch III. Allgemeiner Theil der historische» Geographie. 
_ Die Religionen der Erde. Gleichwie das Vermögen der« so. 
eprache, so ist auch bie Religion ein wesentliches Merkmal ber mensch¬ 
lichen Natur. „Der Mensch muß religiös sein, in Derselben Weise, wie 
es nicht tn seiner Macht steht, fein Gewissen zu haben." Alle Menschen 
verkommensten Geschlechtern ber ödesten Zonen bis zu ben 
hochstgebilbeten Nationen stehen unter ber Herrschaft bes Gefühls ber 
Abhängigkeit bes „Gebunbenfeins" an eine höhere Macht: alle haben
	        
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