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Rechnung tragende, abgestufte Hingebung an die Richtungen und Inhalte
der Bildung. Der Gebildete gleicht in dieser Hinsicht „dem Wanderer,
der hier einkehrt, dort bloß das Mahl nimmt, anderswo tagelang weilt,
manches genau betrachtet, anderes obenhin, heimgekehrt aber dauernd im
eigenen Hanse wohnt". Auch zwischen Lebensstellung und Bildung muß
Einklang hergestellt sein; der Mann von gesundem Geistesleben muß die
Resultante gefunden haben zwischen dem Zuge in die Weite, der bent
Bildungsstreben eignet, und dem Zuge in die Enge, den allermeist der
Berns mit sich bringt. Ohne Anschmelzung an das Bernfsinteresse ist
das Bildungsinteresse eine bloße Zutat, kein Lebenselement, während ander¬
seits die Berufsarbeit ohne den anfrischenden Hauch und veredelnden Zug
der Bildung des menschlichen Charakters verlustig geht.
Lebendiges Wissen und durchgeistigtes Können sind Erscheinungsformen
gebildeten Wesens; aber die Erscheinung bleibt bloßer Schein, wenn sich
jene nicht in geläutertem Wollen zusammenfinden. Kenntnisse und Einsichten
werden wertvolles und wertgebendes Element der Persönlichkeit, erst wenn
sie sich zu Überzeugungen unb Gesinnungen verdichten; Formbeherrschnng
und das Vermögen, zu gestalten, müssen sich auch an der Aufgabe bewähren,
den rohen Stoff - der Triebe und Leidenschaften zu formen und die Be¬
ziehungen des Menschen zum Mitmenschen in selbstlosem Sinne zu gestalten.
So gehören auch sittliche Bestimmungen zur Jdealgestalt des Gebildeten,
wenngleich minder augenfällig als die bisher aufgezeichneten Momente; sie
sind den Fundamenten des Hauses vergleichbar, die, dem Blick entzogen,
den ganzen Ban tragen, und deren erst dann dankend gedacht wird, wenn
sie bei Stürmen und Erschütterungen Säule und Pfeiler, Gebälk und Dach
vor dem Einstürze bewahrt haben. Es sind die Tugenden der Weisheit,
der Selbstbeherrschung und der Gerechtigkeit, die unserer Betrachtung den
Übertritt in die Sphäre der Sittlichkeit vermitteln. Die Weisheit beruht
auf eindringender Einsicht, Erfahrnngsfülle, Kenntnis des Lebens, Wohl-
beratenheit im Handeln, das alles getragen von reiner, wohlwollender
Gesinnung. Dem Bildnngsstreben verleiht die Nähe der Weisheit Ernst,
Tiefe, Lauterkeit und Hinwendung ans die wahren Bedürfnisse des Lebens.
Die Selbstbeherrschung ist der Gebrauch der Vernunft gegenüber den
Trieben, Leidenschaften und Affekten; auf sie geht die Harmonie des inneren
Lebens, das freie Wirken der höheren Vermögen, die wahre Schönheit der
Seele zurück. Als Leitstern des Bildnngsdranges gibt sie diesen! die
Wendung nach innen und hält ihn an, mit der Ruhe und Klarheit des
Geistes die des Gemüts zu verbinden. Sie bewahrt davor, „sich mit einer
aus dem Schaume, der ans der Oberfläche des geistigen Lebens schwimmt,
gewobenen Seelengestalt zu begnügen, indem sie an den Kampf mit den
Elementen der Natur mahnt, durch den sich der inwendige Mensch aus
dem Finstern zum Lichte hinansringt." Die Gerechtigkeit, der tugend-
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