94 Die Neuzeit. 
glänzende Reichsversammlung. Auf erhabenem Throne saß der Kaiser, 
umgeben von seinem Bruder, dem Erzherzog Ferdinand, 6 Kurfürsten, 
24 Herzögen, 8 Markgrafen, 30 Bischöfen und vielen Grafen. Rittern 
und Gesandten. Als Karl V. den einfachen Mönch vor sich sah, sprach er: 
„Der soll mich nicht zum Ketzer machen!" Auch wollte er nicht glauben, 
daß dieser Mann solche Bücher schreiben könne. Man fragte Luther 
lateinisch und deutsch, ob er die hier vorliegenden Bücher für die seinigen 
anerkenne und ob er deren Inhalt widerrufen wolle. Als Luther ant- 
Worten wollte, schien ihn die glänzende Versammlung einen Augenblick 
zu blenden; er sprach mit schwacher, undeutlicher Stimme. Er zögerte 
zwar keinen Augenblick, die Bücher für die seinigen zu erklären; wegen 
der zweiten Frage aber bat er sich Bedenkzeit aus. denn dabei handle 
es sich um den Glauben und der Seelen Seligkeit. Nach kurzer Be- 
ratung antwortete man ihm, er sei eigentlich nicht würdig, daß man ihm 
die Bitte gewähre; doch wolle der Kaiser aus „angebo'rner-Güte" ihm 
noch einen Tag zur Überlegung schenken. Luthers Feinden war es 
ärgerlich, daß man ihm Zeit gelassen hatte, sich zu besinnen. Luther 
aber schrieb noch an demselben Abend an einen Freund: „Ich werde 
keinen Strich widerrufen, so Christus mir gnädig ist." 
Am Donnerstage, den 18. April, ging Luther, wie ihm befohlen 
war. bald nach vier Uhr nachmittags wieder zum Reichstage. Wieder 
mußte er in dichtem Gedränge bis nach sechs Uhr warten, weil die 
Fürsten noch mit anderen Sachen beschäftigt waren. Er war jetzt ganz 
unbefangen und heiter und unterhielt sich mit feinen Freunden. Der 
Reichstagssaal war erleuchtet und so dichtgefüllt. das Gedränge des 
Volks so stark, daß die Fürsten kaum zu ihren Sitzen kamen. Die ihm 
vorgelegte Frage lautete heute etwas anders: „Wollt Ihr die Bücher, 
die Ihr für die eurigen anerkannt habt, alle verteidigen, oder wollt Ihr 
etwas zurücknehmen?" Luther antwortete in einer wohldurchdachten, 
lateinischen Rede mit tapferer, unerschrockener Stimme; er sprach so 
kräftig, daß er im ganzen Saale deutlich verstanden wurde. Zunächst 
bat er um Verzeihung, wenn er wider die höfische Sitte handeln werde, 
denn er habe nicht an fürstlichen Höfen, fondern in Mönchswinkeln ver¬ 
kehrt. Seine Bücher teilte er ein in Bücher der christlichen Lehre. Schriften 
wider die Mißbräuche des Stuhles in Rom und in Streitschriften wider 
einzelne Personen. Luther gab zu, daß er in den letzteren oft zu heftig 
gewesen, wollte aber keineswegs widerrufen. Er berief sich auf Christi 
Wort: „Habe ich übel geredet, so beweiset, daß es böse sei; in diesem 
Falle werde ich der erste sein, meine Bücher ins Feuer zu werfen." Auf 
Verlangen wiederholte Luther die ganze Rede in deutscher Sprache. 
Mit derselben war man nicht zufrieden und bemerkte, man sei nicht 
da. um mit ihm zu disputieren, sondern verlange eine Antwort „ohne 
Hörner", ob er widerrufen wolle oder nicht. Darauf sprach Luther: 
„Weil denn Eure Kaiserliche Majestät und Eure Gnaden eine schlichte 
Antwort begehren, so will ich eine geben, die weder Hörner noch Zähne 
haben soll, nämlich also: Es sei denn, daß ich durch Zeugnis der heiligen 
Schrift, oder mit klaren und hellen Gründen überwunden werde . . . 
sonst bin ich gefangen in meinem Gewissen in Gottes Wort und mag
	        
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