166 Zweite Abtheilung. Zweiter Abschnitt.
Zauberklängen der Sirenen in den sichern Tod gelockt zu werden,
verklebte er seinen Gefährten die Ohren mit Wachs und ließ sich
fest an den_ Mastbaum binden; als sie zwischen den Felsen der
Scylla, einem 12süßigen und 6köpfigen Ungeheuer, und dem furcht-
baren Meeresstrudel, wo die göttliche Charybdis die dunkle Meer-
flut einschlürfte und als weißen Schaum wieder ausspie, hindurch
fuhren und in ihrer Angst vor dem Strudel zu weit nach der Scylla
hinüberlenkten, riß diese plötzlich sechs der tapfersten Genossen von
dem Schiffe und zermalmte und verschlang die vergebens Hülfeflehenden
im Augenblicke; endlich zerschmettert Zeus mit einem Blitzstrahl das
Schiff des „göttlichen Dulders Ddyffeus", alle seine Gefährten er¬
trinken im Meere, er selbst treibt, an einem Balken angeklammert,
neun Tage und neun Nächte in den Wogen umher, bis ihn die
Flut an eine einsame Insel wirft, wo er von der in schöner Fels-
grotte wohnenden Nymphe Kalypso sieben Jahre lang zurückgehalten
wird. Sie begehrt ihn zum Gemahl und verspricht ihm ewige Jugend
und unsterbliches Leben, aber er kann die rheure Heimat, das treue
Weib, den hoffnungsvollen Sohn und den alten Vater nicht vergessen.
Weinend vor Sehnsucht sitzt er jeden Morgen am brausenden Meeres-
strande und schaut über das unendliche Meer; nur noch einmal
wünscht er den Rauch der Heimat aufsteigen zu sehen und dann zu
sterben. Endlich entläßt ihn die Nymphe, und auf'selbstgezimmertem
Floß rudert er siebzehn Tage lang auf dem Meere, am achtzehnten
erblickt er eine Insel, da sendet ihm der zürnende Poseidon noch
einmal einen heftigen Sturm, der sein Floß zertrümmert, und nur
auf dem Schleier einer hülfreichen Meergöttin gelangt er zu der
Insel der Phäaken, jenes glücklichen Schiffervolkes, das, abgeschieden
von aller Welt, in friedlichem Wohlleben seine Tage verbrachte und
gern dem Geschäfte oblag, unglücklich Verschlagene in seinen wunder-
bar schnellen Schiffen zur Heimat zu führen.
3. Heimkehr und Rache des Odysseus.
Schlafend wird er durch diese an der Küste seiner Heimat ge-
landet; und jetzt in seinem letzten Theile, der wieder auf Jthaka
spielt, erreicht das Lied seine höchsten Höhen. Die zwei getrennten
ströme der Erzählung vereinigen sich hier: in der Hütte des „gött-
lichen Schweinehirten" Eumäos, der in dem unscheinbaren Bettler,
als welcher Odysseus die Heimat betritt, seinen Herrn nicht wieder
erkennt, dem er doch ohne Wanken treu geblieben ist, trifft der Vater
mit seinem Sohne, der von seiner Reise heimkehrt, zusammen.
Odysseus gibt sich dem Sohne zu erkennen, und mit dem Rathe der
Göttin Athene beginnen sie das Werk der Rache. Wer möchte es
versuchen, den Eindruck wiederzugeben, den dieser letzte Theil des
Gedichtes, so tief erschütternd und so innig befriedigend, voll tragischen
Ernstes und voll epischen Behagens zugleich, vorgetragen mit dem