Full text: Aus dem Altertum, dem Mittelalter und der Reformationszeit bis zum Dreißigjährigen Kriege (Bd. 1)

Die Ursachen des schnellen Verfalls der germanischen Staatenbildungen rc. 99 
als die Fremden im unterworfenen Lande angesehen wurden und sich 
selber dafür halten mußten. Wenn sie auch durch ihre Kraft und Tapfer¬ 
keit sich zu Herren der eroberten Gebiete gemacht hatten, fo waren sie 
doch an Zahl weit geringer als die Besiegten, und ihre Herrschaft wurde 
mit dem größten Widerwillen ertragen. Der Anblick des großen Ger¬ 
manen in seiner Körperkraft, mit seinem wallenden blonden Haar 
und den strahlenden blauen Augen war dem kleinen, gewandten, schwarz¬ 
äugigen Italiener oder Spanier stets unangenehm, und es verband sich 
ihm die Vorstellung eines wilden Gewaltherrschers und Eindringlings mit 
den körperlichen Eigenschaften des Germanen. Weder Schonung der 
nationalen Eigenarten der einheimischen Bevölkerung noch gewaltsame Unter¬ 
drückung derselben vermochte eine Verschmelzung germanischer und roma¬ 
nischer Bevölkerung herbeizuführen. Die Kluft zwischen Siegern und Be¬ 
siegten blieb, und die Germanen fanden infolgedessen keine Unterstützung 
bei den Eingesessenen, wenn ihnen als Herren des Landes die Aufgabe 
zufiel, dasselbe gegen die anstürmenden Feinde zu schützen. (Siehe be¬ 
sonders die letzten Kämpfe der Ostgoten). 
b) Der Gegensatz zwischen Romanen und Germanen, der sich so 
deutlich schon in der Gestalt und im Äußeren ausprägte, wurde verschärft 
durch den Unterschied der Bildung beider Völker, der einen Aus¬ 
gleich der Nationalitäten rein unmöglich machte. Zwar bedienten sich die 
Herren des Landes wohl bald der einheimischen lateinischen Sprache oder 
suchten sie wenigstens zu erlernen; aber die Errungenschaften einer mehr¬ 
hundertjährigen geistigen Kultur zu schätzen und zu würdigen, vermochten 
sie nicht. Es wird die Plünderung Roms durch die Vandalen als Be¬ 
weis für die Roheit dieses germanischen Volkes angeführt; mag auch die 
zeitgenössische Schilderung übertrieben sein, so sprechen viele einzelne Züge 
doch für die Unfähigkeit der Germanen, römische Kunst und Kultur nach 
ihrer Bedeutung zu beurteilen. Der Römer als der geistig Überlegene 
mußte den germanischen Eindringling gering achten, und wenn der Fremd¬ 
ling, der den Mangel an geistiger Bildung bald fühlen mußte, nun gar 
von den Unterworfenen die äußeren Formen der feinen gebildeten Lebens¬ 
art, der Sprache, Kleidung, des Umgangs annahm, ohne doch sein bar¬ 
barisches Wesen recht verleugnen zu können, so konnte es nicht ausbleiben, 
daß er den Römern lächerlich erschien und ihnen infolgedessen um so 
hassenswerter werden mußte. 
e) Die Verwaltung, die von den Germanen in den eroberten 
Ländern eingeführt wurde, konnte ebensowenig das friedliche Nebeneinander¬ 
wohnen der verschiedenen Nationalitäten oder gar den Prozeß der Ver¬ 
schmelzung fördern. Die Germanen waren in bedeutender Minderzahl 
gegenüber der eingesessenen Bevölkerung und konnten also das ganze Land
	        
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