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Die Geschichte des Mittelalters
Wunder und Abenteuer, Liebesfreude und Liebesleid, weite Fahrten
und seltsame Gegenden, typische Menschen gar oft ohne Fleisch und Blut
treten uns entgegen. Die äußere Form, der klangvolle Vers in dem
glatten, weichen Mittelhochdeutsch ist die Hauptsache. Deutscher als alle
die anderen aber ist Wolframs „Parzival". Mag auch die ganze „ritter¬
liche Welt der zwecklosen Abenteuer und des konventionellen Minne¬
dienstes" uns fremd geworden sein, das seelische Ringen von tiefer Un¬
befriedigung am weltlichen Leben, von Zweifeln an Gott aus bis hin zu
dem neuen Ideal eines geistlichen Rittertums, das in frommer, weltlicher
Gesinnung und in echt menschlicher Hingabe aufgeht; der Kampf, den
Wolfram seinem Parzival gleich wohl unter schweren Schmerzen selbst
durchgemacht hat, „bis das alte Ideal in seines Herzens Tiefe gereinigt
und neugeboren ist, — das alles ist deutsche Art!" (vgl. Goethes Faust).
Herrlicher, kräftiger und herber noch zeigt sich das deutsche Volkstum
in den beiden Volksepen, die zur selben Zeit im kolonialen Österreich
entstanden waren, im Lied von de.r Nibelungen Not und der treuen
Gudrun. Urwüchsige Reckengestalten, liebende und rächende Weiber,
unheimliche dämonische Gewalten, treue Freunde, Hochzeiten und wilde
Kampfestage, Jagen und Kämpfen, Morden und Sterben, Dulden und
Erlöstwerden, all das geht durch diese Lieder hindurch. Treue bis zum
Tod und über den Tod hinaus, Mannentreue, die grimm und trotzig das
Schrecklichste wagt, aber auch in der Stunde der Verzweiflung nicht ver¬
zagt, sondern wächst bis ins Übermenschliche hinein, Weibertreue, die mit
dem Racheschwert in der Hand oder als duldende Wäscherin am Meeres¬
strand uns entgegentritt, — herrlicher besungen, erhabener und ergreifender
dargestellt finden wir sie nirgends, als in Kriemhild und Gudrun, Hagen
und Rüdiger, Siegfried und Brünhild! Aus dem Herzen des deutschen
Volkes geboren als die Verkörperung seines Ideals von Männerstolz und
Frauenwürde, waren diese Gesänge fortgeklungen in den Unterströmungen
des Volkslebens, von Geistlichkeit und höfischem Rittertum verachtet, und
es ist ein großes Zeichen für die Kraft der neuen Bildung, daß trotzdem
namenlose Spielmänner dem deutschen Volke das wieder in vollem Um¬
fange schenkten, was immer einen bedeutenden Teil seines Kulturguts aus¬
machen wird/) und daß in den niederen Schichten des Volkes diese Lieder
von Siegfried, Dietrich, Horand und Wate weiter gesagt und gesungen
wurden.
*) „Wenn man die größten Erzeugnisse deutschen Dichtergeistes, die Werke, in denen
deutsche Art sich am vollständigsten und klarsten ausspricht, und die, falls das deutsche
Volk einmal vom Erdboden verschwände, seines Namens Gedächtnis am herrlichsten
erhalten würden, zu nennen hätte, so würde man sich auf zwei Dichtungen beschränken
können, und diese würden das Nibelungenlied und Goethes „Faust" sein. An dem