Full text: Vom Westfälischen Frieden bis auf unsere Zeit (Bd. 2)

Allgemeine Charakteristik des 19. Jahrhunderts 259 
oller politischen und wirtschaftlichen Freiheit die volle Entfaltung 
kraftvoller Persönlichkeiten im Dienste des Vaterlandes, so ist auch der 
Staat die Norm, das Staatswohl die Grenze; sobald individualistische 
Bestrebungen den nationalen Staat gefährden, hat er die Pflicht, die Frei- 
heit zu beschränken. Während auf diesen Gebieten also äußere Macht- 
maßregeln der Abwehr und Beschränkung notwendig sind, sind allem un- 
berechtigten und unheilvollen Subjektivismus auf geistigem, religiösem und 
sittlichem Gebiete nicht Gewalt und Macht, nicht Scheiterhaufen und Ver- 
tetzern entgegenzusetzen, sondern die stillen und um so segensvoller und 
tiefer wirkenden Mächte einer sittlich-religiösen Erziehung und einer ein- 
dringenden Belehrung, vorbildlichen Wirkens, tragender, helfender Liebe, 
sittlich bessernder Fürsorge, die Macht der Liebe und Hoffnung endlich, 
die da aus dem Glauben kommt. Freie, harmonisch ausgebildete, sittlich- 
religiöse Persönlichkeiten — sie werden frei sich fügen unter das große 
Ganze. 
b) Damit klingt schon der soziale Gedanke an. Einst im Mittel- 
alter war der Deutsche schlechthin ein genossenschaftliches Wesen; dem 
dann von dem Humanismus und der Reformation an durchbrechenden 
und sich immer mehr vertiefenden und verfeinernden Individualismus tritt 
in unserem Jahrhundert der Sozialismus zur Seite. Er beruht ein- 
mal auf der praktischen Erwägung, daß der einzelne allein zu schwach 
ist, die einzelnen vereint eine Macht sind, sodann auf der idealen, daß 
nur im Wirken, im Sorgen und Arbeiten für einen größeren Kreis der 
einzelne Befriedigung und zugleich Vollentfaltung seiner Persönlichkeit er¬ 
langen könne. So wird trotz aller sozialdemokratischen Gelüste (Bebels 
„Frau") und alles modernen Überfraueutums die Familie der 
nächstliegende Gemeinschaftskreis sein, in dessen Dienst der einzelne, sei 
es Mann ober Frau oder heranwachsende Jugend, seine Gaben und 
Kräfte zu stellen hat. Dieser Dienst erweitert sich dann: Dorf und 
Stadt, Provinz, Beruf und Berufsgen offen fchaft, der 
Staat endlich und die Kirche, sie alle können nur gedeihen durch 
vereinter Kräfte rastloses Wirken, wie auch andererseits der einzelne nur 
im Dienst eines idealen Zweckes, der zugleich in ihm und doch über ihm 
liegt, Begeisterung und Vollbefriedigung sindet, nur im Zusammenschluß 
mit Gleichstrebenden und Gleichwirkenden Kraft und Rückhalt hat 
für die geistigen und wirtschaftlichen Sorgen, Kämpfe und Note des 
Lebens. 
Wohin würden wir geraten, wenn jeder einzelne, unbekümmert um 
seinen Nächsten, in Selbstsucht nur an sich dächte, rücksichtslos erwürbe, 
die erworbene Macht rücksichtslos zur Niederkämpsung anderer ausnützte, 
nenn so „der Krieg aller gegen alle" bestünde? Ob wirklich zur 
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