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merkwürdiges Übergewicht, das das Zierschränkchen unter den Möbeln be¬
hauptet. Vas Zierschränkchen scheint das Hauptbedürfnis des deutschen
Hauses zu sein. Es wechselt in den Formen: einmal Eckschränkchen, einmal
Schreibschränkchen, einmal Glasschränkchen, einmal Silberschränkchen, aber
immer ist's ein kleines spielerisches ITtöbel, das schon von weitem sagt:
ich diene gar keinem Zweck, ich bin eigentlich nur da zum Schön-Nussehen
und zum platzfüllen. Ich will nicht behaupten, daß diese Funktion nicht
hie und da in der Ordnung sei, - manche größere, elegantere Wohnung
mag solche Schränkchen zur Nufbewahrung von hübschen Schaustückchen oder
Kuriositäten brauchen — aber zu den allernotwendigsten Dingen gehören
sie doch nicht, und diesen notwendigsten Dingen wird nicht entfernt ent¬
sprechend viel Mühe mehr zugewandt als diesem Lieblingskinde, dem Zier¬
schränkchen. Fürchtet man sich, die handgreiflichsten, einfachsten Dinge zu
entwerfen? Ich glaube eher: man weiß gar nicht recht, was eigentlich
notwendig ist, was ein praktischer INensch in einer praktischen Wohnung
tatsächlich braucht. Es ist das ein Vorwurf, der nicht die Künstler treffen
soll, die unsere kunstgewerbliche Bewegung eingeleitet haben- denn gerade
die haben ja ihre Tätigkeit mit bewußter Nbsicht auf die Gestaltung der
alltäglichen Dinge gelegt und bekennen diesen Standpunkt bei jeder Ge¬
legenheit. Es ist ein Vorwurf, der vielmehr die Konsumenten trifft,- denn
sie bestimmen das, was der Händler vorrätig hat. Und um die Bedürfnisse
dieses kaufenden Publikums scheint es auch dort, wo Kunstgefühl herrscht,
ganz kurios auszusehen. Gewiß, an den schönen reinen Kunstwerken der
„Objets d’art“, die man heute reichlich findet und kauft, übt sich der Ge¬
schmack, das Kunstgefühl. Uber das alles allein gestaltet eine Wohnung
doch nie und nimmer. Das Grundlegende muß doch wohl der Sinn für
Sachlichkeit, für Zweckmäßigkeit, für Bequemlichkeit werden, und der scheint
bei uns noch weit mehr zu fehlen, als man gewöhnlich annimmt. Man
gehe nur einmal in den Häusern herum, die man wohl eingerichtet nennt,
gleichviel ob nach alten oder neuen Gesichtspunkten, und sehe, ob man
da auch nur einen richtigen und richtig untergebrachten Tisch findet, einen
Tisch, an dem man bequem sitzen kann, auf dem man seine Bücher und
Werke bequem besehen kann- einen Tisch, der groß, breit, gemütlich ist,
mit Beinen, an die man sich nicht anstößt, mit einer Platte, deren Politur
man nicht beständig zu verkratzen fürchtet, und an einem Platze, aus den
das Tageslicht voll von der Seite fällt und wo auch die künstliche Beleuchtung
derart ist, daß man sich nicht die Nugen verdirbt. Greift die Kunst in die
praktischen Dinge, ins Handwerk ein, so sollte sie dabei nie vergessen, daß
die praktischste und behaglichste Form auch eine Forderung der Neuzeit
ist, die sie mit zu lösen hat.
Die weitaus wichtigsten Nufgaben liegen im Nusgestalten der großen
ehrlichen Gebrauchsmöbel. Ist eine Wohnung in bezug auf sie rein gehalten,
Schönfelder, Deutsches Lesebuch für prima. 21