Full text: Deutsches Lesebuch für Prima (Teil 8)

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merkwürdiges Übergewicht, das das Zierschränkchen unter den Möbeln be¬ 
hauptet. Vas Zierschränkchen scheint das Hauptbedürfnis des deutschen 
Hauses zu sein. Es wechselt in den Formen: einmal Eckschränkchen, einmal 
Schreibschränkchen, einmal Glasschränkchen, einmal Silberschränkchen, aber 
immer ist's ein kleines spielerisches ITtöbel, das schon von weitem sagt: 
ich diene gar keinem Zweck, ich bin eigentlich nur da zum Schön-Nussehen 
und zum platzfüllen. Ich will nicht behaupten, daß diese Funktion nicht 
hie und da in der Ordnung sei, - manche größere, elegantere Wohnung 
mag solche Schränkchen zur Nufbewahrung von hübschen Schaustückchen oder 
Kuriositäten brauchen — aber zu den allernotwendigsten Dingen gehören 
sie doch nicht, und diesen notwendigsten Dingen wird nicht entfernt ent¬ 
sprechend viel Mühe mehr zugewandt als diesem Lieblingskinde, dem Zier¬ 
schränkchen. Fürchtet man sich, die handgreiflichsten, einfachsten Dinge zu 
entwerfen? Ich glaube eher: man weiß gar nicht recht, was eigentlich 
notwendig ist, was ein praktischer INensch in einer praktischen Wohnung 
tatsächlich braucht. Es ist das ein Vorwurf, der nicht die Künstler treffen 
soll, die unsere kunstgewerbliche Bewegung eingeleitet haben- denn gerade 
die haben ja ihre Tätigkeit mit bewußter Nbsicht auf die Gestaltung der 
alltäglichen Dinge gelegt und bekennen diesen Standpunkt bei jeder Ge¬ 
legenheit. Es ist ein Vorwurf, der vielmehr die Konsumenten trifft,- denn 
sie bestimmen das, was der Händler vorrätig hat. Und um die Bedürfnisse 
dieses kaufenden Publikums scheint es auch dort, wo Kunstgefühl herrscht, 
ganz kurios auszusehen. Gewiß, an den schönen reinen Kunstwerken der 
„Objets d’art“, die man heute reichlich findet und kauft, übt sich der Ge¬ 
schmack, das Kunstgefühl. Uber das alles allein gestaltet eine Wohnung 
doch nie und nimmer. Das Grundlegende muß doch wohl der Sinn für 
Sachlichkeit, für Zweckmäßigkeit, für Bequemlichkeit werden, und der scheint 
bei uns noch weit mehr zu fehlen, als man gewöhnlich annimmt. Man 
gehe nur einmal in den Häusern herum, die man wohl eingerichtet nennt, 
gleichviel ob nach alten oder neuen Gesichtspunkten, und sehe, ob man 
da auch nur einen richtigen und richtig untergebrachten Tisch findet, einen 
Tisch, an dem man bequem sitzen kann, auf dem man seine Bücher und 
Werke bequem besehen kann- einen Tisch, der groß, breit, gemütlich ist, 
mit Beinen, an die man sich nicht anstößt, mit einer Platte, deren Politur 
man nicht beständig zu verkratzen fürchtet, und an einem Platze, aus den 
das Tageslicht voll von der Seite fällt und wo auch die künstliche Beleuchtung 
derart ist, daß man sich nicht die Nugen verdirbt. Greift die Kunst in die 
praktischen Dinge, ins Handwerk ein, so sollte sie dabei nie vergessen, daß 
die praktischste und behaglichste Form auch eine Forderung der Neuzeit 
ist, die sie mit zu lösen hat. 
Die weitaus wichtigsten Nufgaben liegen im Nusgestalten der großen 
ehrlichen Gebrauchsmöbel. Ist eine Wohnung in bezug auf sie rein gehalten, 
Schönfelder, Deutsches Lesebuch für prima. 21
	        
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