Full text: Die Ausgestaltung der europäischen Kultur und deren Verbreitung über den Erdball (Hauptteil 3)

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Die Gewaltherrschaft Napoleons und ihr Zusammenbruch. 
geprägte Eigenart hätte entwickeln können. Auch wurde das allgemeine 
Interesse vorwiegend durch staatliche und gesellschaftliche Fragen in Anspruch 
genommen. Trotzdem war der Einfluß der Revolution auf das Geistes¬ 
und Gemütsleben bedeutend und tiefgehend: der Kampf gegen die aus 
dem Mittelalter stammenden politischen und sozialen Lebensformen über¬ 
trug sich auch auf Sitte, Mode, Kunst, Wissenschaft usw. Lieber suchte 
man seine Ideale bei den Griechen und Römern (Neuklassizismus) 
als in der eigenen Vergangenheit. Je mehr aber an der Revolution und 
der Napoleonischen Zwingherrschaft die Schattenseiten hervortraten, je 
gründlicher sich alle bisherige Ordnung aufzulösen schien, desto allgemeiner 
wurde die Abkehr von der neuen Bewegung. Jetzt lenkten die Gebildeten 
den Blick wieder auf das M i t t e l a l t e r mit seinem starken Autoritäts¬ 
gefühl auf kirchlichem, politischem und gesellschaftlichem Gebiete sowie 
seiner Gemütstiefe. Man nannte diese Richtung Romantik). Sie zeigte 
sich namentlich in der Kunst und in der Dichtung. Doch gehörte ihre eigent¬ 
liche Blüte erst dem folgenden Zeitalter an. 
1. Mode und Stil blieben unter dem Einflüsse Frankreichs. Hier war mit 
der Beseitigung des ancien rögime auch die buntfarbige Tracht der alten Zeit 
verschwunden und so traten an die Stelle, von Kniehose, Schoßrock, Perücke 
(bzw. Zopf), Dreispitzhnt ac. rc. die lange Hose, der Frack,"die langen/ natür¬ 
lichen Haare, der Rundhut u. dgl., alles in eintönigem Schwarz oder Grau. Die 
Frauen trugen fließende, hochgebundene Gewänder. Der zierliche Rokoko- und 
der steife Zopfstil wurden verdrängt durch den schwerfälligen, phantasielosen 
^Emtziretzil (Stil des Napoleonischen Kaiserreiches), der eine einseitige Nach¬ 
ahmung des antik-römischen2) war (vgl. S. 76 Anm.) und die Einfachheit der 
Linien bis zur Ärmlichkeit herabdrückte. 
Wohl der bekannteste französische Maler des Revolutionszeitalters war 
f 1825 David, der als Konventsmitglied für den Tod Ludwigs XVI. stimmte, dann 
aber der Verherrlicher Napoleons wurde (Reiterbildnis des Ersten Konsuls, 
Krönung Napoleons). — Die Führung in der plastischen Kunst hatte der italie- 
f 1822 nische Bildhauer Canova, der mit Nachahmung der Alten Anmut und Zier¬ 
lichkeit verband (Statuen Napoleons und seiner Gattin Marie Luise). — Her¬ 
vorragende Bauwerke jener Zeit sind der Triumphbogen (auf dem Sternplatz) 
in Paris und die Magdalenenkirche ebendaselbst, das Brandenburger Tor (mit 
dem ehernen Viergespann der Siegesgöttin von Gottfried S ch a d o w) in 
Berlin, das Münzgebäude in München u. ä. 
2. Die Dichtung hielt sich, was Deutschland anbelangt, zunächst auf ihrer 
klassischen Höhe; Schiller und Goethe erreichten den Gipfelpunkt ihres 
Schaffens. Von Zeitgenossen verdienen Erwähnung die (S. 96 genannten) 
Freiheitsdichter, ferner der Humor- und phantasiereiche, schwärmerische 
*) Mit dem Wort „romantisch" (romanisch) bezeichnete man zunächst den Kunst¬ 
stil des 11. und 12. Jahrhunderts, dann die ganze mittelalterliche Welt- und 
Lebensauffassung. 
2) Auch die seit 1748 begonnene Wiederausgrabung Pompejis belebte das 
Interesse für römische Kunst aufs neue.
	        
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