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Nordische Mythologie.*)
Bei der Dürftigkeit der Nachrichten, die sich hinsichtlich der religiösen Vorstellungen
der alten Germanen in Deutschland erhalten haben, sind wir um so mehr auf die Mytho-
logie der nordischen Germanen in Skandinavien angewiesen. Diese ist erhalten in der
Edda, einer Sammlung alter Götter- und Heldenlieder (die ältere ca. 1100 auf
Island geschrieben). Dabei ist freilich fraglich, inwieweit die Mythologie der Germanen
in Deutschland mit der der stammverwandten Skandinavier übereinstimmte. — Die
nordische Mythologie berichtet über
Die Entstehung der Welt:
1. Entstehung der Riesen: Im Uranfang war ein öder, leerer Raum.
Am nördlichen Ende desselben lag „Niflheim" (Nebelheim), ein dunkles, kaltes Reich;
am andern Ende „Muspelheim" (Welt der Feuerbewohner), hell und licht. In Niflheim
lag ein Brunnen, aus dem zwölf Ströme kamen, welche die gähnende Kluft ausfüllten.
Als die zwölf Ströme soweit von der Quelle entfernt waren, daß die warmen Dünste sich
verflüchtigt hatten, erstarrten sie zu Eis. Auf dieses Eis fielen Funken aus Muspelheim,
und es begann zu schmelzen. Die Tropfen belebten sich, und es entstand ein gewaltiger
Mann, der Riefe Amir, der Stammvater des Geschlechtes der Reifriesen.
2. Entstehung der Götter: Durch die warmen Dünste, die von Muspelheim
herüberkamen, schmolz das Eis immer mehr, und aus den Tropfen entstand die Kuh
„Audhumbla" (die Schatzfeuchte, d. h. die von Reichtum überquellende). Sie ernährte
sich damit, daß sie die salzigen Eissteine beleckte. Dabei leckte sie einen sehr schönen,
großen und starken Mann bloß, „Buri". Von diesem stammen die weltbeherrschenden
As e n (Götter), die aber erst später zur Weltherrschaft gelangen; es sind die drei Götter:
Odin, Loki und Hönir. Diese drei Asen töten den Riesen 2)mir. In dem großen Blut-
ström, der aus seinen Wunden fließt, ertrinken alle Riefen; nur ein einziger Nachkomme
des Amir entkam mit seinem Weibe. Von diesen beiden stammt das zweite Geschlecht der
Riesen. — Aus den Gliedern des erschlagenen Amir wurde die Erde und ihre einzelnen
Teile geschaffen: aus seinem Blute das Meer, aus seinen Knochen die Berge, aus seinem
Schädel das Himmelsgewölbe zc. Das Himmelsgewölbe wurde mit feurigen Funken aus
Muspelheim verziert, mit Sonne, Mond und Sternen. Die Erde ward vom Meer um-
geben. Der innere Teil derselben, „Midgard" (mittlerer Garten), ward mit einer Schutz¬
wehr gegen die Riefen versehen, die am Meeresufer wohnten.
3. Schöpfung der Zwerge: In dem Fleische des getöteten Dmir entstanden
Maden, die von den Göttern mit Gestalt und Geist begabt wurden. Diesen neu entstan-
denen Wesen wurde das Innere der Erde als Wohnsitz zugewiesen.
4. Schöpfung des Menschen: Die drei Asen kamen einst an den Strand des
Meeres. Hier fanden sie zwei Bäume: „Askra" und „Embla" (Esche und Erle). Beide
waren thatenlos. Da nahmen die Götter sich ihrer an: Odin gab ihnen Geist, Hönir
Vernunft, Loki Blut und Farbe. Das Geschick dieser lebenden Bäume wurde von den
Nornen (Schicksalsgöttinnen) bestimmt: sie sollten nicht unsterblich, sonderndem Schicksal
unterworfen sein. Von diesen beiden Wesen stammt das Geschlecht der Menschen, denen
Midgard zum Wohnsitz angewiesen wurde.
5. Das Weltall: Das Weltall dachten sich die Germanen als Baum, nämlich
als eine ungeheuere Esche. Dieselbe hat drei Wurzeln, von denen die eine in die Unterwelt,
bie zweite zu den Riesen, die dritte zu den Asen reicht. An jeder Wurzel entquillt ein
*) Nach Bartsch (gütigst mitgeteilt von Prof. Em. Schmitt, Baden).