— 157 —
nach kaum hunderttägiger Herrschaft am 15. Juni 1888 aus dem Leben schied.
Kein deutscher Kaiser, keiner der Hohenzollernsürsten hat kürzer regiert als
er; gleichwohl bleibt dem frühe Geschiedenen neben dem erhabenen Bilde des
großen Vaters eine dauernde Stätte der Liebe in allen deutschen Herzen ge¬
sichert.
2. Kaiser Wilhelm II. seit 1888. Friedrichs III. Sohn, geboren
27. Januar 1859, bestieg — wie seine berühmten Ahnen aus dem Hohen-
zollernhause, der große Kurfürst und der König Friedrich der Große — in
der Vollkraft der Jugend den Herrscherthron. Aber der jugendfrische Fürst
zeigte schon bei seinen ersten Kundgebungen, daß er die Lehren besonnener
Mäßigung, volksfreundlicher Milde, arbeitsamer Pflichterfüllung und beharr-
licher Friedensliebe, welche ihm der Mund und das Beispiel des alterfahrenen
Großvaters erteilt, nicht vergeblich empfangen habe. Als König von
Preußen verbürgte er dem Landtage die gewissenhafte Aufrechterhaltung
der Landesgesetze, der Volksrechte und Volksfreiheiten, und erklärte, daß er
bei feiner Regententhätigkeit „sich das Wort des großen Friedrich gegenwärtig
halte, daß in Preußen der König des Staates erster Diener ift." Eine große
Stunde deutscher Geschichte war es, da er vor den Reichstag zuerst als d eu t -
scher Kaiser trat, umschart von den sämtlichen Fürsten des Reichs, die
durch ihr Erscheinen vor den Vertretern der Nation ihre Bundestreue feier-
lich bekundeten. Die Welt erfuhr, daß Deutschland in sich einig und in
seiner Einigkeit stark fei Sie vernahm des Kaisers ebenso beruhigende als
stolze Versicherung: „Ich bin entschlossen, nach außen hin Frieden zu halten
mit jedem, soviel an mir liegt. Deutschland bedarf weder neuen Kriegsruhms
noch irgendwelcher Eroberungen, nachdem es seine Berechtigung, als einige
und unabhängige Nation zu bestehen, endgültig erkämpft hat." Und mit wie
ernstem Eifer der junge Kaiser bemüht war, seine Friedensversicherung zu
bekräftigen und Freundschaft zu pflegen mit den Fürsten der andern Mächte,
. das hat er durch ein Unternehmen bewiesen, wie es in der Völkergeschichte
ohne Beispiel ist. Zu Waffer und zu Lande, nach Norden und Süden, nach
Westen und Osten machte er Kaiferfahrten und reichte in St. Petersburg,
in Stockholm und Kopenhagen, in Wien und in Rom, dann in London, in
Athen und Konstantinopel den Herrfchern der großen europäischen Staaten
unter dem Zujauchzen der Völker die eintrachtverbürgende Bruderhand. Den
deutschen Bundesfürsten aber brachte er nach München, Dresden, Stuttgart,
Karlsruhe, Oldenburg, Weimar, Darmstadt ac. 2C. seinen kaiserlichen Dank
für ihre bei seiner Thronbesteigung von neuem kundgegebene unwandelbare
Reichstreue. Auch eine friedliche Mehrung des Reiches gelang ihm; die
Insel Helgoland wurde 1890 durch Vertrag von England zurückerworben