Full text: Prosa (Teil 4, [Schülerband])

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frommer Glaube ihm beschädigt. Vielen kam der Zweifel und vielen 
Gleichgültigkeit. 
Und der ehrliche Hauswirt fühlte, daß er in einer unseligen Welt 
stand; Ströme Blutes rannen, wild stieß ein Stamm ans den andern; 
die zusammen gehörten, trennten sich feindlich, niederträchtige That war 
häufig, die Treue war kleiner geworden, viel wildes Unkraut auf 
menschenleeren Feldern, viele zerstörte Städte und bleichende Gebeine 
Erschlagener; grimmes Leid erfuhr jeder mit seinem Volk, und schwere 
Thaten hatte er selbst geübt in Not und Übermut. Mitten in den 
Kämpfen um Leben und Schätze regte sich in seinem nachdenkenden Ge¬ 
müt ein Schmerz über die eiserne Zeit, und die uralte wehmütige Be¬ 
trachtung der Natur, die durch den Wechsel von deutschen Sommern und 
Wintern erregt wird, kam ihm auch, wenn er das Geschick seines Volkes 
überdachte. Wie die Freuden des Sommers vergehen, mochte auch die 
Kraft seines Stammes schwinden, denn traurig ging alles hin, was der 
Welt zur Freude war. — Und wenn der Sänger vor den verkohlten 
Balken der niedergebrannten Halle saß und seines erschlagenen Häupt¬ 
lings gedachte, dann drang derselbe bange Klageton ans seiner Brust: 
„Gefallen ist alle Macht, gewichen die Freude, nur die Schwachen hausen 
und behalten die Welt, gebrauchen sie in Mühe. Gebeugt ist die Blüte, 
der Erde edle Art altert und welkt wie jeglicher Mann in der Menschen¬ 
welt, die Zeit überkommt ihn, das Antlitz bleicht, grauhaarig betrauert 
er traute Gesellen, Geschlechter der Edlen, gesenkt in den Grund." — 
Ähnliche ernste Auffassung des Lebens war, so scheint es, dem Germanen 
von je eigen, sie wurde aber während der Wanderzeit trauriger. Und 
dabei beengte ihn Angst und grübelnde Sorge, was aus ihm werden 
solle nach diesem Leben. Wenn die Krieger ihrem gestorbenen König das 
Totenschiff rüsteten und das Seeroß mit dem Leichnam den Wellen über¬ 
gaben, „dann war traurig ihr Sinn und kummervoll ihr Mut, nicht 
wußten wahrhaft zu sagen die Saalberater, die Helden unter dem Himmel, 
wer diese Fracht empfing." 
Da drang in sein Ohr die geheimnisvolle Kunde, daß Allvater 
einen neuen Sohn nach der Menschenerde gesandt habe, der neue Lehre 
und neue Weisheit verkünde, der sich zum Herrn der Seelen aufgeworfen 
habe und gebieterisch heische, daß man ihm nachfolge. Er vernahm, daß 
die neue Lehre stark mache bei Männerarbeit, in der Schlacht, im Tode, 
daß man aber dem alten Glauben entsagen und sich dem neuen Gott 
als Mann und Knecht zuschwören müsse. 
Als der Christenglaube zu den Germanen kam, hatte er selbst durch 
drei Jahrhunderte in der antiken Welt große Wandlungen hervorgebracht 
und nicht geringere erfahren. Länger als ein Jahrhundert war er zu 
Rom ein Glaube der Fremden, Armen, Gedrückten. In geheimen Ver¬ 
sammlungen, in enger Genossenschaft warteten die Gläubigen auf die 
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