Der Charakter der athenischen Demokratie. 
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23. Der Charakter der athenischen Demokratie. 
Eduard Meyer, Geschichte des Altertums. 
(Stuttgart, Cotta.) 
Nirgends, weder vorher noch nachher in der Geschichte, ist mit der Selbst- 
regierung des Volkes so bitterer Ernst gemacht worden als in Athens. Es 
gibt in dieser Stadt keine Regierung, kein Ministerium, keine Autorität als die 
Volksversammlung. Jeder Athener Hat das Recht ihr seine Ansicht vorzutragen 
und zu versuchen, ob seine Ratschläge Gehör finden; aus den Vorschlägen wählt 
das Volk kraft seiner ihm innewohnenden Weisheit aus, was ihm am zweck¬ 
dienlichsten erscheint. * Aber nur um so deutlicher zeigt sich, daß die attische 
Demokratie tatsächlich auf eine Einrichtung zugeschnitten ist, von der die ge- 
schriebene Verfassung nichts weiß: auf die Leitung des Staates durch den vom 
Vertrauen des Volkes auf unbestimmte Zeit an seine Spitze berufenen Dema- 
gogen. Ihm die Bahn frei zu machen, haben zuerst KleistHenes, dann Themi- 
stokles ihre Reformen eingeführt; Ephialtes2) und Perikles haben den letzten 
Schritt getan, indem sie den geringen noch bestehenden Rest einer selb¬ 
ständigen Autorität beseitigten und zugleich durch die Heranziehung der besitz- 
losen Menge zum Regiment die neue Ordnung auf die breiteste Basis stellten. 
Die Massen, und mögen sie noch so oft sich versammeln, selbst regieren können 
sie nicht; irgend eine Einheit aber muß da sein. Einen Überblick über die Lage 
des Staates, das Finanzwesen, die äußere Politik in Krieg und Frieden kann 
nur gewinnen, wer die Staatsgeschäfte als feinen Lebensberuf treibt. Der 
Staat kann nur gedeihen, wenn die einzelnen Politiker sich einer überlegenen 
Persönlichkeit unterordnen, oder wenn, falls mehrere um den Vorrang kämpfen, 
der Souverän, d. h. eben das Volk, eine definitive Entscheidung trifft — die 
Form dafür bot der Ostrakismos — und sich dann dem Mann seiner Wahl 
mit vollem Vertrauen hingibt. Dieser Regent, oder wenn man lieber will, dieser 
*) Im Jahre 461 v. Chr. wurde Simon, der Führer der aristokratischen Partei, 
durch das Scherbengericht verbannt. Seitdem war der Sieg der Demokratie entschieden. 
Der Areiopag wurde seiner politischen Rechte entkleidet und ihm die Oberaufsicht über 
den Staat genommen, für die Übernahme aller durch das Los besetzten Staatsstellen, 
also für die Verwaltungsämter, für den Rat und für die Gerichte wurden Geldent- 
Schädigungen — Tagegelder, kein fester Gehalt — gewährt. Das Archontat, dessen 
Mitglieder (schon seit 487) ebenfalls durch das Los gewählt wurden und das so seine 
Bedeutung verloren hatte, wurde auch der dritten Bevölkerungsklasse, den Zeugiten, 
zugänglich gemacht. Andere Einrichtungen zum Besten der Masse kamen hinzu: die 
Ärmeren erhielten aus der Staatskasse das Theatergeld, damit der Bürger den musi- 
kalischen und dramatischen Aufführungen beiwohnen könne ohne zu darben. Auch 
außerordentliche Spenden wurden dem Volke nicht selten gewährt. 
2) Auf Betreiben dieses Mannes wurde kurz vor Kimons Verbannung der Areiopag 
.seiner wichtigsten Machtbefugnisse beraubt.
	        
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