Full text: Geschichtliches Lesebuch

der Messias — darum, weil er sein Volk und alle Völker zu einer 
höheren Stufe der Gotteserkenntnis und Gottesverehrung emporhob. 
Gott war für Jesus nicht der Gott des Zornes, dessen Fluch 
auf der Welt lastete. Jesus erkannte in Gott den lieben Vater der 
Menschen. Er sah, wie Gott regnen läßt über Gerechte und Un¬ 
gerechte, wie er seine Sonne hinaufführt über Gute und Böse, 
wie er die Vögel im Neste behütet und den Gebeten unruhiger 
Menschenherzen sich hörend entgegenneigt. Darum war ihm das 
vornehmste von allen mosaischen Geboten dieses: Du sollst lieben 
Gott, deinen Herrn, von ganzem Herzen, von ganzer Seele und 
ganzem Gemüte. 
Sind wir Menschen alle Gottes Kinder, so sind wir unter¬ 
einander Brüder und Schwestern. Unter den Menschen soll daher 
nicht bloß Gesetz und Recht gelten, sondern das Gebot der Liebe, 
die mehr tut als sie muß. Sie gibt zum Rock den Mantel, sie geht 
zwei Stunden statt der erbetenen einen, sie vergibt siebenzigmal 
siebenmal und klagt niemanden an als sich selbst. 
Der jüdischen Gesetzlichkeit gegenüber wies Jesus darauf hin, daß 
die wahre Sittlichkeit in der Gesinnung wurzele. Er verurteilte nicht 
nur den Mord, sondern schon den Zorn, nicht nur die äußere 
Trennung der Ehegatten, sondern schon die innere und verlangte, 
daß die Ehe einen Herzensbund bilde; er verurteilte nicht nur den 
Meineid, sondern den Eid überhaupt, da der Eid bei wahrhaftiger 
Gesinnung entbehrt werden könne. Nicht die Erfüllung äußerer 
Satzungen verlangte Jesus von den Menschen, sondern Barmherzigkeit, 
Herzensreinheit, Friedfertigkeit, Sanftmut, Demut, Hunger und Durst 
nach Gerechtigkeit. 
Alle diejenigen, welche Jesus als Träger und Verkünder göttlichen 
Sinnes ansahen und ihm zufielen, bildeten eine geistige Gemeinschaft, 
die Jesus das Gottesreich oder das Himmelreich nannte. Wer Jesus 
folgte, wer in Gott den Vater sah und seine Mitmenschen als Brüder 
und Schwestern liebte, der gehörte dem Gottesreich an, dem fiel 
das Gottesreich nicht erst als Belohnung nach seinem Tode zu, der 
war schon jetzt in das Gottesreich eingetreten. 
Aber die Juden waren schwerhörende Schüler; sie begehrten nach 
derberem Lohne für ihre Frömmigkeit und warteten auf den Tag, da 
sie an den Heiden sich rächen durften, da ihrer heiligen Stadt die 
Herrschaft über das Erdreich zufallen sollte. Darum wurde Jesus 
nicht müde, den Zeitgenossen in immer neuen Bildern das Gottesreich 
als ein übersinnliches darzustellen. „Wann“, fragen bei Lukas die 
Pharisäer, ,,kommt das Reich Gottes?“ „Das Reich Gottes kommt 
nicht", erwiderte Jesus, „daß man es beobachten kann; man wird 
auch nicht sagen, siehe, hier ist es, siehe da ist es. Das Reich Gottes 
ist mitten unter Euch.“ Es ist ein geistiger Vorgang, der schon 
begonnen hat. Es ist das Erwachen der Gottesliebe, der Menschen¬ 
liebe, die Einkehr des Friedens von oben. Bereits senkt sich die 
obere Welt herunter in die untere; bereits dringt die geistige Welt 
hindurch durch die irdische Hülle. Ein jenseitiges Reich, will es 
diesseitig werden; ein zukünftiges, ist es schon Gegenwart.
	        
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