Full text: Altdeutsches Lesebuch

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Da Snorri in seiner Edda die alten Sagen in Prosa nur mit Ein¬ 
streuung einzelner Versstellen gab, war man seit der Entdeckung seines 
Werkes (1628) eifrig bestrebt zu seiner poetischen Quelle vorzudringen. 
Man glaubte sie gefunden zu haben, als man (1643) die obengenannte 
Liedersammlung entdeckte und übertrug nun auch ans diese voreilig den 
Namen Edda, ja man beging eine zweite Übereilung, indem man diese 
Sammlung dem berühmtesten Gelehrten, den Island im Mittelalter her¬ 
vorgebracht, dem Priester Sä mund dem Weisen (1056—1133), zusprach. 
Dieser hatte einst den Hof zu Oddi zum Mittelpunkt der Gelehrsamkeit 
ans der Insel erhoben. Dort hatte sein Enkel Jon Loptsson auch den 
jungen Snorri erzogen und unterrichtet. 
Jenen Annahmen gegenüber, zu denen sich der Entdecker der Lieder- 
Edda, Bischof Brynjols Sveinsson, hatte hinreißen lassen, hat die Forschung 
festgestellt, daß Sämund nachweisbar mit der Edda überhaupt nichts zu 
tun hat, daß die Prosa-Edda, auch Snorra-Edda oder jüngere Edda ge¬ 
nannt, von Snorri um 1230 auf Grund mündlicher Überlieferungen 
verfaßt wurde, die Lieder-Edda aber, die man nur wegen der altertüm¬ 
licheren Fassung ihres Inhalts die ältere nennt, um 1250 entstanden 
sein muß. 
Aus der Wotuspa (der Seherin Weissagung). 
In diesem großartigsten aller Götterlieder der Edda berichtet eine Wolwa 
(Seherin) von der Entstehung der Welt, der Erschaffung der Zwerge und der 
Menschen, von der Weltesche und den Normen, vom ersten Weltkrieg der Äsen mit 
den Manen, von Baldurs Tod und der Bestrafung seines unfreiwilligen Mörders, 
des blinden Hödur, wie des Anstifters Loki, von den götterfeindlichen Unge¬ 
heuern, wie Fenrir u. a., und weissagt zuletzt den Untergang wie die Erneuerung 
der Welt. 
a) Entstehung der Welt. 
l. Ich heische Gehör von den heil'gen Geschlechtern, 
Von Heimdalls Kindern, den hohen und niedern; 
Walvater wünscht es, so will ich erzählen 
Der Vorzeit Geschichten aus frühster Erinn'rnng. 
Strophe 1, Vers 1—2: Heilige Geschlechter und Heimdalls Kinder heißen 
die Menschen, da die drei Stände des Menschengeschlechtes (nach dem Liede von Rig) 
vom Gotte Heimdall, dem Wächter der Himmelsbrücke, stammen. — Vers 3: Walvater, 
d. h. Totenvater, heißt der höchste Gott Odin, weil er in Walhall (Totenhalle) die ihm 
von den Walküren (Totenkicserinnen) zugeführten Einherier (d. h. die ausgezeichneten 
Kämpfex), die gefallenen Helden, um sich sanimeli. 
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