— 101 —
Lebens wahrheitsgetreu vorzuführen suchte. Von ihrem Hauptvertreter
Menander (um 350), dessen Feinheit von den alten Kunstrichtern über-
einstimmend gerühmt wird, sind keine vollständigen Stücke, sondern nur
Fragmente, namentlich eine Reihe schöner Sentenzen, und die Nachdichtungen
der römischen Lustspieldichter (namentlich des Terenz) erhalten.
Von den Wissenschaften trat in diesem Zeitraum neben der Redekunst,
deren im Zusammenhang mit der politischen Geschichte (bei Demosthenes,
s. S. 98) gedacht ist, namentlich die Philosophie hervor. Platon.
der im Jahre der Einnahme Olynths achtzigjährig starb, hatte die philo-
sophische Darstellung durch reichen Gedankengehalt und schöne dichterische
Sprache ^ zu einer Hauptgattung der Literatur gemacht. Auf Platon, den /
Begründer der akademischen Schule, folgte Aristoteles aus Stagira <fV"
auf Chalcidice (384—322), der Gründer der peripatetischen2 Schule,
der Erzieher des großen Alexander.
*Dte große Macht der Persönlichkeit des Sokrates, des Philosophen aus
dem Volke, zeigt sich in der Fülle von Anregungen, die er ausgestreut, in der
Menge eigenartiger Denker, die er herangebildet hat. Man unterscheidet:
1. die eigentlichen Sokratiker, wie Xenophon und der ältere Ä s ch i n e s,
welche, in den Fußstapfen des Meisters wandelnd, vom Menschen Selbstprüfung und
ein sittliches Leben verlangten;
2. die Cyniker, so genannt nach dem athenischen Gymnasium Kynosarges,
wo Antisthenes Bedürfnislosigkeit und Zurückgehen auf den Naturzustand lehrte,
eine Lehre, die dann von Diogenes aus Sinope, dem Zeitgenossen Alexanders,
auf die Spitze getrieben wurde.
3. Die Hedoniker oder Cyrenaiker, so genannt nach Aristipp von
Cyrene, welche umgekehrt in der Kunst des feineren Lebensgenusses (ijSov?]) und der
Vermeidung unangenehmer Eindrücke 3 die Aufgabe des Menschen erblickten.
Alle die Genannten überragt durch Tiefe und Schwung der Gedanken Platon,
dessen Hauptwerke schon S. 92 erwähnt sind, weil sie sich zum Teil auf Sokrates
beziehen. Nach Platon ist die sichtbare Welt nur ein unvollkommenes Abbild der
vollkommenen und unvergänglichen Urbilder oder Ideen (idicu od. sidrj); auch
die menschliche Seele, durch welche wir, wenn sie losgelöst ist von den körperlichen
Empfindungen und Bedürfnissen, die Ideen erkennen, ist unsterblich und den Ideen
1 ^Platon war in seiner Jugend Dichter gewesen. Über Platons Bedeutung als
Schriftsteller urteilt Ranke: „Beim Lesen der platonischen Dialoge empfindet man den
Einklang von Form und Inhalt, glücklicher Erfindung und treffendem Ausdruck; sie sind
die Arbeit eines großen Schriftstellers. Nirgends zeigt sich mehr, welchen Wert Durch¬
arbeitung und Gestaltung für alle Zeit hat.''
2 So genannt von ne^naTelv ambulare, weil Aristoteles im Aufundabgehen
zu lehren liebte.
3 So blieb Aristipp von den letzten Lebensstunden des Sokrates fern.