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„Du sagtest, der Drache sei nicht größer als andere Lindwürmer,' mir
aber scheint seine Spur gewaltig groß." — „Mach' eine Grube," ant¬
wortete der Zwerg, „und setze dich darein. Wenn der Wurm zum Wasser
gekrochen kommt, so stich ihn von unten ins herz und gib ihm den Tod.
5 Dann wirst du großen Ruhm gewinnen!" — „Wie wird mir's aber er¬
gehen," frug Siegfried, „wenn des Wurmes Blut mich überströmt?"
Da rief Regin: „Ich sehe schon, dir ist nicht zu raten! vor allem und
jedem fürchtest du dich und bist deinen heldenmütigen Vorfahren ganz
unähnlich." Da schwieg Siegfricö stille, band Grane an einen Baum
10 und ging auf die Heide, Regin aber entwich eilends, denn er war über¬
aus furchtsam.
Rls nun Siegfried begonnen hatte, die Grube zu graben, trat ein
alter einäugiger Mann mit langem Barte und von ehrwürdigem Rus-
sehen zu ihm und frug ihn, was er da schaffe. Der Held sagte es ihm.
iS Da sprach der Greis: „Das ist ein unbesonnenes Tun. Des Drachen
Blut wird dich ertränken. Mache mehrere Gruben und verbinde sie mit¬
einander durch schmale Gänge, damit das rinnende Blut sich verteilen
kann. Dann magst du ungefährdet in einer der Gruben sitzen und den
Wurm ins herz stechen." Rach diesen Worten verschwand der hehre
20 Greis; Siegfried aber tat nach seinem Rate.
Wie nun der Wurm vom Golde zum Wasser kroch, da erbebte
ringsum die Erde und ward ein dumpfes Getöse. Gräßlich war das
riesige Scheusal zu schauen, giftigen Tsualm blies es aus den Rüstern,
und giftiger Speichel enttroff seinem Rachen. Rber den Helden beschlich
25 keine Furcht, und als der Drache über die Grube kroch, stieß er ihm das
Schwert unter den linken Bug, so daß es bis zum Griff hineinfuhr.
Dann riß er es schnell wieder an sich und sprang hurtig aus der Grube.
Brüllend krümmte sich Fafner zusammen und schlug mit seinem furcht¬
baren Schweif alles entzwei, was ihm vorkam. Rber unaufhaltsam schoß
30 ihm das heiße Blut aus der Todeswunde, und bald lag er ermattet da
und vermochte sich nicht mehr zu rühren. Run trat ihm Siegfried näher,
und als Fafner ihn gewahr ward, hub er zu fragen an: „Du schlimmer
Gesell, wie heißt du und wer ist dein Vater, daß du dich erkühntest zu
solcher Tat?" Run war es im Rltertum Glaube, daß eines Sterbenden
35 Fluch große Gewalt habe,' deshalb versetzte Siegfried: „Einsam wandle
ich unter den Menschen,' nicht Vater und Mutter habe ich gehabt. Wie
ich heiße, ich weiß es nicht." — „hast du weder Vater noch Mutter,"
sprach Fafner, „durch welches Wunder kamst du zur Welt? verhehlst du
aus Feigheit mir deinen Namen, so wisse, nicht will ich dir fluchen, wenn
4o du Wahrheit sprichst." Da antwortete der Held: „Siegfried heißt, der
dich traf; Siegmund hieß mein Vater." — „Wer reizte dich zur Tat?"