Full text: Vom Westfälischen Frieden bis zum Ende der Französischen Revolution (Bd. 2)

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die übrigen Abgeordneten mit fort; nach und nach traten die Geist¬ 
lichen und die Adligen der Versammlung des dritten Standes bei. 
Charakter der Versammlung. Aber die Aufgabe, 
welche sich die Versammlung gestellt hatte, überstieg ihre Kräfte. 
Freilich machten sich die Volksvertreter mit Begeisterung an ihre 
Aufgabe heran; aber Begeisterung allein ist nicht imstande, ein großes 
Werk zu vollbringen. 
Vor allen Dingen fehlte es der Versammlung an hervorragenden 
Männern, welche die Führung hätten übernehmen können, und über¬ 
dies war die Eigenliebe der einzelnen zu groß, als daß sie sich einem 
Führer hätten unterordnen wollen. Jeder der neuen Gesetzgeber war 
überzeugt, daß gerade seine Gedanken die richtigen seien. 
Dazu kam, daß sich auch die besten Köpfe der Versammlung ganz 
von ihrer Einbildungskraft beherrschen ließen, ohne zu überlegen, ob 
man ihre Pläne auch in die Wirklichkeit übertragen könne. Man be¬ 
saß an den Verfassungen Englands und der Vereinigten Staaten von 
Nordamerika Vorbilder. Aber man wollte gar nicht vom Auslande 
lernen; man wollte durchaus etwas ganz Neues schaffen und fragte 
auch nicht danach, ob nicht die in Frankreich schon bestehenden 
Einrichtungen ein Recht darauf hätten, weiterzubestehen. So kam 
es schließlich dahin, daß man nicht verbesserte, sondern umstürzte. 
Ferner wurde auch der klare Blick der Abgeordneten dadurch 
getrübt und ihre Festigkeit dadurch mürbe gemacht, daß die Zuhörer 
auf den Galerien in die Verhandlungen eingriffen. Jederzeit waren 
etwa 600 Zuhörer da; aber diese hörten nicht ruhig zu, wie es in 
anderen Parlamenten Vorschrift ist, sondern griffen lebhaft in die 
Verhandlungen ein, klatschten Beifall, zischten und stampften. Sie 
mischten sich auch unter die Abgeordneten, erhoben bei Abstimmungen 
die Hände und bildeten gewissermaßen eine Nebenversammlung, 
welche der Hauptversammlung oft ihren Willen aufdrängte. Die 
Namen derjenigen Abgeordneten, welche sich durch ihre Abstim¬ 
mungen bei den Zuhörern unbeliebt machten, wurden aufgeschrieben; 
man teilte die Namen dem Pöbel mit, der draußen stand, und die Ab¬ 
geordneten konnten sich darauf gefaßt machen, daß sie, nachdem sie 
den Sitzungssaal verlassen, draußen geschmäht oder gar mißhandelt 
wurden. 
Arbeiten. Die Versammlung mußte vor allen Dingen zwei 
Grundübel beseitigen: der Adel und die Geistlichen genossen Vorzüge, 
ohne dafür Dienste zu leisten, und der König betrachtete das 
öffentliche Vermögen als sein Eigentum und verwendete das¬ 
selbe, wie ihn gut dünkte, ohne den Vorteil des Landes ins Auge zu 
fassen. Das sollte geändert werden. Zunächst wurde festgesetzt, daß 
hinfort alle Vorrechte des Adels, alle Lehnsrechte also, keine Gültig¬ 
keit mehr haben sollten, und zwar sollten sie ohne Ablösung beseitigt 
werden. Die Versammlung sagte: „Jeder Mensch ist frei geboren. 
Wurde er einst der Leibeigenschaft unterworfen, so mußte er sich das 
gefallen lassen, weil er gezwungen wurde. Eine solche Unterwerfung 
war aber ungesetzlich. Die heutigen Nutznießer sind gleichsam Hehler 
von gestohlenem Gut, das sie nun den rechtmäßigen Besitzern zurück-
	        
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