— 103 —
die übrigen Abgeordneten mit fort; nach und nach traten die Geist¬
lichen und die Adligen der Versammlung des dritten Standes bei.
Charakter der Versammlung. Aber die Aufgabe,
welche sich die Versammlung gestellt hatte, überstieg ihre Kräfte.
Freilich machten sich die Volksvertreter mit Begeisterung an ihre
Aufgabe heran; aber Begeisterung allein ist nicht imstande, ein großes
Werk zu vollbringen.
Vor allen Dingen fehlte es der Versammlung an hervorragenden
Männern, welche die Führung hätten übernehmen können, und über¬
dies war die Eigenliebe der einzelnen zu groß, als daß sie sich einem
Führer hätten unterordnen wollen. Jeder der neuen Gesetzgeber war
überzeugt, daß gerade seine Gedanken die richtigen seien.
Dazu kam, daß sich auch die besten Köpfe der Versammlung ganz
von ihrer Einbildungskraft beherrschen ließen, ohne zu überlegen, ob
man ihre Pläne auch in die Wirklichkeit übertragen könne. Man be¬
saß an den Verfassungen Englands und der Vereinigten Staaten von
Nordamerika Vorbilder. Aber man wollte gar nicht vom Auslande
lernen; man wollte durchaus etwas ganz Neues schaffen und fragte
auch nicht danach, ob nicht die in Frankreich schon bestehenden
Einrichtungen ein Recht darauf hätten, weiterzubestehen. So kam
es schließlich dahin, daß man nicht verbesserte, sondern umstürzte.
Ferner wurde auch der klare Blick der Abgeordneten dadurch
getrübt und ihre Festigkeit dadurch mürbe gemacht, daß die Zuhörer
auf den Galerien in die Verhandlungen eingriffen. Jederzeit waren
etwa 600 Zuhörer da; aber diese hörten nicht ruhig zu, wie es in
anderen Parlamenten Vorschrift ist, sondern griffen lebhaft in die
Verhandlungen ein, klatschten Beifall, zischten und stampften. Sie
mischten sich auch unter die Abgeordneten, erhoben bei Abstimmungen
die Hände und bildeten gewissermaßen eine Nebenversammlung,
welche der Hauptversammlung oft ihren Willen aufdrängte. Die
Namen derjenigen Abgeordneten, welche sich durch ihre Abstim¬
mungen bei den Zuhörern unbeliebt machten, wurden aufgeschrieben;
man teilte die Namen dem Pöbel mit, der draußen stand, und die Ab¬
geordneten konnten sich darauf gefaßt machen, daß sie, nachdem sie
den Sitzungssaal verlassen, draußen geschmäht oder gar mißhandelt
wurden.
Arbeiten. Die Versammlung mußte vor allen Dingen zwei
Grundübel beseitigen: der Adel und die Geistlichen genossen Vorzüge,
ohne dafür Dienste zu leisten, und der König betrachtete das
öffentliche Vermögen als sein Eigentum und verwendete das¬
selbe, wie ihn gut dünkte, ohne den Vorteil des Landes ins Auge zu
fassen. Das sollte geändert werden. Zunächst wurde festgesetzt, daß
hinfort alle Vorrechte des Adels, alle Lehnsrechte also, keine Gültig¬
keit mehr haben sollten, und zwar sollten sie ohne Ablösung beseitigt
werden. Die Versammlung sagte: „Jeder Mensch ist frei geboren.
Wurde er einst der Leibeigenschaft unterworfen, so mußte er sich das
gefallen lassen, weil er gezwungen wurde. Eine solche Unterwerfung
war aber ungesetzlich. Die heutigen Nutznießer sind gleichsam Hehler
von gestohlenem Gut, das sie nun den rechtmäßigen Besitzern zurück-