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Prosaheft VI.
Noch aber wurden sie kürzer und kürzer. Die Sonne stand hoch über
dem Teufelsstein, und über dem Talgrunde lag ein bläulicher Duft.
Ich kehrte wieder zum Kreuze zurück und setzte mich auf den Stein,
auf welchem sonst andächtige Waldwanderer knien. Das Kreuz war
hoch und hatte keinen Heiland. Weit streckte es seine Arme aus, als
wollte es den Wald umfangen.
Ich wendete mich von dem Pfahle und von dem Bahrhügel und
sah hin gegen den Bergrücken des Teufelsstein. Die Himmelsglocke lag
in mattem Blau, kein Vogel und kaum eine Mücke war vernehmbar.
Es war ein fast traumhafter Frühherbstmittag, durchklungen von einer
ewigen Stille/
Wildschützen haben ihn erschossen. Ich ging über die Wiese und
sagte mir, wenn ich zehnmal über die Wiese gegangen sein würde, dann
wollte ich wieder den Schatten messen. Aber der Schatten duckte sich
noch mehr unter die Bäume als früher.
Dann ging ich hin zu der verhüllten Leiche des Waidmannes und
stand lange vor derselben; ich fühlte kaum ein Schauern mehr. Dann
setzte ich mich wieder unter das Kreuz und aß ein Schnittchen Brot.
Da hörte ich plötzlich ein Knistern; ein Reh stand und guckte durch das
Gestämme.
Zuletzt kam das Tier gar zu dem Reisighügel heran und schnupperte;
vor diesem Jägersmanne fürchtete es sich nicht mehr. Erst als es den
Pulvergeruch des Gewehrlaufes gewahrt haben mochte, wendete es sich
mit großen Sätzen dem Dickichte zu.
Endlich, als ich wieder den Schatten maß, hatte er sich um ein weniges
gedehnt. Ich mußte ja schon viele Stunden auf der Wildwiese geweilt
haben.
Wie immer, so hatte mein Vater auch diesmal Recht. Ich hörte
einen getragenen Schall und Widerhall im Walde. Es nahten Menschen.
Doch nicht die Holzknechte waren es, die um den Wolfgang kommen
sollten, sondern quer die Wiese her kam ein junges Weib, das trug einen
Korb am Rücken und führte ein etwa dreijähriges Kind am Arm. Sie
sangen ein lustiges Kinderlied, und das kleine Mädchen lachte dabei und
hüpfte flink über das weiche Gras.
Ich erkannte die Nahenden bald, es war das Weib und das Kind
des erschlagenen Jägers Wolf. -
Sie kamen heran, und als sie mich sahen, sagte die Jägerin zum
Mädchen: „Schau, Agatha, da beim Kreuz sitzt ein Bub', der betet ein
Vaterunser; das ist gar ein braver Bub'!"
Dann kniete sie hin auf den Stein, legte die Hände zusammen
und betete auch. Das Kind tat desgleichen und war gar ernsthaft dabei.
Mir war unbeschreiblich weh. Wie hätte ich sagen können, was
unter dem Reisig lag? Ich ging abseits gegen die Weiden.