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1871 erfolgte zu Versailles die Proklamation Königs Wilhelm zum deutschen Kaiser.
Er versprach dabei: ein Mehrer des Reichs sein zu wolleu nicht in kriege¬
rischen Eroberungen, sondern in Werken des Friedens. Bald darauf eröffnete
er den ersten deutschen Reichstag in Berlin und sprach dabei: „Wir haben erreicht,
was seit ber Zeit unserer Väter erstrebt wurde: Deutschlands Einheit. Das
neue Dentschlanb, wie es aus der Feuerprobe bes gegenwärtigen Krieges
hervorgegangen ist, wirb ein zuverlässiger Bürge des europäischen Frie¬
dens sein! Möge die Wiederherstellung des beutfchen Reiches für bie deutsche Nation
auch nach innen bas Wahrzeichen neuer Größe sein! Möge bem beutscheu Reichskriege,
ben wir so ruhmvoll geführt, ein nicht miuber glorreicher Reichsfrieben folgen, unb möge
die Aufgabe des deutschen Volkes fortan darin bestehen, sich in dem Wettkampfe um die
Güter des Friedens als Sieger zu erweisen.
57. Letzte Regierungszeit Kaiser Wilhelms I.
Nach diesen Kriegen erwies sich Kaiser Wilhelm als ein rechter „Mehrer des
Reiches in Werken des Friedens", wie er einst gelobt hatte. Es ist ihm gelungen,
den Frieden zu erhalten. Die innere Einigung des Reiches hat sich unter seiner weisen
Regierung fest vollzogen. Mancherlei weise Einrichtungen haben da;u wesentlich
beigetragen. So wurden in ganz Deutschland gleiche Münzen und Gewichte ein¬
geführt, gleiches Recht vorbereitet und Eisenbahn sowie Telcgrapheuwesen
verbessert, wodurch sich Handel und Verkehr bedeutend hoben. Dem erprobten
Landheere zur Seite entstand eine mächtige Kriegsflotte, die dem deutschen Namen
Achtung in allen Erdteilen verschaffte. Mit ihrer Hilfe wurden auch bedeutende
außereuropäische Kolonieen, besonders in Australien (Kaiser Wilhelms-Land,
Bismarck-Archipel) und Afrika (Kamerun, Deutsch Ost-Afrika) erworben. Als
Friedensfürst hat Kaiser Wilhelm sich auch die unablässige Pflege der Künste,
Wissenschaften und aller Gewerbe angelegen sein lassen. Herrliche Denk¬
mäler und Bauten sind durch ihn ausgeführt, so das Reiterstandbild Friedrich Wil¬
helms IV., die Germania auf dem Niederwald, die Ruhmeshalle, das Kunstge¬
werbemuseum, die Natioualgallerie, das landwirtschaftliche Museum u. a. Aber
doch hat es in den letzten Jahren nicht an heißen inneren Kämpfen gefehlt, und
die schwersten Sorgen, die bittersten Erfahrungen sind dem Kaiser Wilhelm im
letzten Jahrzehnt durch die sozialistischen Bestrebungen bereitet .worden, die darauf
hinausgehen, Staat und Kirche zu stürzen. Zwei Glieder dieser Umsturzpartei
haben es sogar gewagt, ihre Hände nach dem Leben des Kaisers auszustrecken
(1878). Aber statt sich dadurch verbittern zu lassen, ist er nur bemüht gewesen,
sich auch der Ärmsten in seinem Reiche anzunehmen und ihnen zu helfen. Durch
weise Gesetze sorgte er für das Wohl der arbeitenden Klassen. „Unsere
Kaiserlichen Pslichten gebieten uns, kein in unserer Macht
stehendes Mittel zn versäumen, um die Besserung der
Arbeiter nnd den Frieden der Bernssklassen unterein¬
ander zu sörderu, so lange Gott uns Frist giebt zu wir¬
ken", so sprach der Kaiser und erließ das Kranken- und Unsallversiche-
rnngsgesetz. Nach demselben erhalten die versicherten Arbeiter, welche durch
Krankheit oder einen bei der Arbeit erlittenen Unfall zeitweilig arbeitsunfähig ge¬
worden sind, eine Unterstützung. Fabrikinspektoren wachen darüber, daß die
Arbeiter nicht mit Arbeit überbürdet werden. Einigungsämter schlichten die
Streitigkeiten zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Kinder-, Frauen- und
Sonntagsarbeit wurden eingeschränkt. Das Genossenschaftswesen mit seinen
Konsum-, Kredit- und Sparvereinen ward gefördert.
Lettau, 60 Bilder aus deutscher und preußischer Geschichte. »