SJ1G IH. Zeitr. Die neuere Zeit. Von der Reformation bis jetzt.
105. Die Jahre 1848 bis 1866.
Dieser Sturm trat denn auch im Frühjahr 1848 mit betäubender Gewalt
ein, und wiederum kam er von der Seite her, von welcher seit länger als einem
halben Jahrhundert der Anstoß zu großen Umwälzungen gegeben war.
Die Unzufriedenheit mit Ludwig Philipps Regierung in Frankreich war
immer größer geworden; ihr wurden, wenn auch zum großen Theile mit Unrecht,
alle Uebel zugeschrieben, welche das öffentliche Leben drückten und eben so sehr
in den allgemeinen Uebelständen unserer Zeit, in der Uebervölkeruug, dem Mi߬
verhältnisse von Armuth und Reichthum, der Arbeitslosigkeit vieler Menschen,
aber auch in der Sittenverderbniß, der Genußsucht, dem Uebermnthe der Massen
ihren Grund hatten, als in den freilich vielfach verkehrten Maßregeln der Re¬
gierung. Sehr schlimm war es, daß die Achtung vor dem höher stehenden
Theile der Gesellschaft durck böse Beispiele von Bestechlichkeit hoher Staats¬
beamten und von Zerrüttung im häuslichen Leben vornehmer Familien, die
selbst zu Verbrechen führte, im Volke erschüttert war; da mußten die Lehren derer,
die den Haß gegen Regierung, gegen Reiche und Vornehme, predigten, desto
leichter Wurzel schlagen.
Der Ausbruch wurde dadurch herbeigeführt, daß die Freiheits-Partei eine
Veränderung in den Wahlgesetzen für die Depuürten-Kammer forderte, durch
welche das Wahlrecht auf eine größere Anzahl von Personen ausgedehnt werden
sollte. In mehreren der größeren Städte Frankreichs wurden große Bankette
der Reform-Partei gefeiert, bei welchen sehr aufrührerische Reden gehalten wurden.
Als ein solches Reformbankett am 22. Februar auch in Paris gehalten werden
sollte, wurde dasselbe am Tage zuvor von der Regierung verboten. Dies er¬
regte laute Unzufriedenheit und es rotteten sich am 22. große Menschenhaufen
zusammen und verübten Unordnungen. Die Polizei wollte Ruhe stiften und
fand Widerstand. Das Geschrei: Es lebe die Reform! Nieder mit Gnizot!
(dem ersten Minister) wurde das Losungswort.
Am 23. wurde der Kampf heftiger und drohender. Der König glaubte
den Sturm beschwichtigen zu können, wenn er das Ministerium entließe und einen
beliebteren Mann, den Grafen Mole, an die Spitze eines neuen stellte; und
wirklich erregte diese Nachricht auch allgemeine Freude. Abends wurde die
Stadt erleuchtet. Allein ein unglücklicher Zufall vereitelte die Hoffnung der Ruhig¬
gesinnten. Ein Haufen Volks hatte sich vor dem Hanse des bisherigen Minister-
Präsidenten Guizot versammelt; die Wache gab Feuer, etwa 50 Menschen
wurden getödtet oder verwundet, und mit dem erbitterten Geschrei: „Wir sind
verrathen! Rache! Zu den Waffen!" stürzte die Menge durch die Straßen von
Paris. Der Aufruhr entbrannte in der furchtbarsten Gestalt, Barrikaden erhoben
sich in allen Theilen der Stadt. Die Nationalgarde verband sich zum großen
Theile mit dem Volke.
Jetzt war der Versuch des Königs, unter Thiers und Odilon Barrot ein
neues Ministerium zu bilden, vergeblich; der letztere mußte ihm erklären, das
Volk verlange, daß er die Krone niederlege. Gegen Mittag d. 24. Febr. ent¬
schloß sich der König dazu zu Gunsten seines Enkels, des Grafen vonParis,
eines zehnjährigen Knaben, des ältesten Sohnes des verstorbenen Herzogs von
Orleans. Die Herzogin von Orleans, (eine mecklenburgische Prinzessin,) begab
sich mit ihren beiden Söhnen in die versammelte Depntirten-Kammer und Odilon