Full text: Charakterbilder aus der Geschichte der alten und beginnenden neuen Zeit (Bd. 1)

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Verpflanzung einheimischer Kultur. 
und Massilia andere Pflanzstädte gründeten, daß Syrakus auf dem Gipfel seiner Macht 
gegen Athen und die Heere Hannibals und Hamilkars kämpfte, daß Milet nach Tyrus und 
Karthago lange Zeit die erste Handelsstadt der Welt war! Indem sich durch die Tatkraft 
eines in seinem Innern oft erschütterten Volkes ein so reich bewegtes Leben nach außen ent- 
faltete, wurden bei zunehmendem Wohlstande durch die Verpflanzung einheimischer Kultur 
überall neue Keime der geistigen Nationalentwicklung hervorgerufen. Das Band gemeinsamer 
Sprache und Heiligtümer umfaßte die fernsten Glieder. Durch diese drang das kleine helle- 
nische Mutterland in die weiten Lebenskreise anderer Völker. Fremde Elemente wurden auf- 
genommen, ohne dem Griechentum etwas von seinem großen und selbständigen Charakter 
zu entziehen. Der Einfluß eines Kontakts mit dem Orient und, über hundert Jahre vor 
dem Einfall des Kambyses, mit dem noch nicht persisch gewordenen Ägypten war überdies 
seiner Natur nach dauernder als der Einfluß sagenhafter Niederlassungen des Kekrops aus 
Sais und des Kadmus aus Phönikien. Was die griechischen Kolonien von allen andern, 
besonders von den starren phönikischen unterschied und in den ganzen Organismus ihres 
Gemeinwesens eingriff, entsprang aus der Individualität und uralten Verschiedenheit der 
Stämme, in welche die Nation sich teilte. Es waltete in den Kolonien, wie im ganzen 
Hellenismus ein Gemisch von bindenden und trennenden Kräften. Diese Gegensätze erzeugten 
Mannigfaltigkeit in der Jdeenrichtung und in den Gefühlen, Verschiedenheiten in Dichtuugs- 
weise und melischer Kunst, sie erzeugten überall die reiche Lebensfülle, in welcher sich das 
scheinbar Feindliche nach höherer Weltordnung einträchtig verband. 
Waren auch Milet, Ephesus und Kolophon jonisch, Kos, Rhodus und Halikarnaß 
dorisch, Kroton und Sybaris achäisch, so übte doch mitten in dieser Vielseitigkeit der Natur, 
ja da, wo in Unteritalien Pflanzstädte verschiedener Volksstämme nebeneinander lagen, die 
Macht der homerischen Gesänge, die Kraft des begeisterten, tief empfundenen Wortes ihren 
allvermittelnden Zauber aus. Bei festgewurzelten Kontrasten in den Sitten und in den 
Staatsverfassungen, bei dem wechselnden Schwanken der letzteren erhielt sich das Griechen- 
tum ungeteilt. Ein weites, durch die einzelnen Stämme errungenes Reich der Ideen und 
Kunsttypen wurde als das Eigentum der gesamten Nation betrachtet. 
Griechische Verfassungen. 
In dem Zeiträume von der Heraklidenwanderung bis zu den Perserkriegen wurde das 
Königtum in den meisten Staaten abgeschafft oder so beschränkt, daß fast nur der Name 
übrig blieb. Gegen das Ende d'es 7. Jahrhunderts hatten von den griechischen Staaten nur 
Sparta und Epirus noch Könige. An die Stelle der Monarchie traten Republiken, welche 
voneinander sehr verschieden waren. Alle griechischen Staaten, auch die aristokratischen, 
hatten demokratische Grundlage, nämlich eine Volksversammlung, welche an der Gesetzgebung 
und Leitung des Staates teilnahm. Außer in Sparta ernannte die Volksversammlung die 
Richter oder bildete für Staatsverbrechen selbst die richterliche Behörde. Die Beamten wurden 
nur auf ein Jahr erwählt. Der Begriff Staat hatte im Altertum eine weitere Ausdehnung 
als in der neuern Zeit, er umfaßte alle Verhältnisse des Lebens und kein Grieche konnte dem 
Staate gegenüber sich teilnahmslos verhalten, in unserm Sinne ein Privatleben führen. In 
den jonischen Staaten entwickelte sich mehr und mehr das demokratische Element, es trat 
eine immer größere Gleichheit der Bürger ein; in den dorischen dagegen blieb das aristokratische 
vorherrschend. Die Leitung des Staates war einer kleinen Zahl angesehener Familien über-
	        
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