Die Toten in der Bolkssitte und Kunst der Griechen.
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freilich von vielen verlacht würden, deren Wahrheit aber den einen zum Schrecken, den
andern zum Tröste immer unwidersprechlicher einleuchte, je näher das Ende heranrücke.
Darum wird dies ja auch als Prinzip der echt hellenischen Weisheit den Barbaren gegen-
über geltend gemacht, daß über Glück und Unglück eines Menschenlebens sich erst am Ende
desselben urteilen lasse. Das ganze Leben ist nur eine Vorbereitung und am glücklichsten
ist derjenige, welcher mit einer Tat der Selbstaufopferung im Dienste der Gottheit aus dem
Leben scheidet. , ;
Aber wir brauchen nicht an einzelne Momente zu erinnern, um die Bedeutung des
Unsterblichkeitsglaubens für die Griechen klar zu machen; wir wissen ja alle, daß keinerlei
Überlieferungen und Gesetze bei ihnen so heilig waren, wie diejenigen, welche die Ehre der
Toten betrafen, daß keine Sünde schwerer war als die an einem Verstorbenen begangene, sei
es aus Fahrlässigkeit oder böser Absicht, durch die Tat oder ein lästerndes Wort. Nach dem
blutigsten Kampfe sehen wir die feindlichen Parteien zusammentreten, um sich in stillschwei-
geuder Übereinkunft zur Bestattung der Gebliebenen zu vereinigen. Liegt diesem Eifer für
die Ehre der Toten nicht die Überzeugung zugrunde, daß die Geehrten nicht nur leben und
zwar in einem erhöhten, reineren und deshalb besonderer Ehrerbietung würdigen Zustande,
sondern daß sie auch persönlich dabei beteiligt sind, ob und wie die Liebeswerke für sie aus-
geführt werden, und daß ihre Gesinnung auch für die Überlebenden nichts Gleichgültiges
sei? Die Toten sind keineswegs im vollsten Sinne Abgeschiedene, im fernen Hades allen
irdischen Beziehungen entrückt, sie sind vielmehr mit dem Volke im ganzen sowie mit den
einzelnen Häusern im allernächsten und ununterbrochenen Zusammenhang. Die Götter des
Volkes sind die Götter seiner Väter. Mit den Tempeldiensten ist die Verehrung derer ver¬
bunden, welche die Tempel gestiftet haben; ihre Gräber sind im Heiligtum; hier walten sie
als segnende Landeshüter; also sind auch sie. die Ahnen des Stammes, als Lebendige
gedacht; denn kein Gott ist ein Gott der Toten, sondern der Lebenden. Wie die Ur-
väter des Staates und die Wohltäter desselben als segenskräftige Heroen mit ihm fortleben,
so lebt auch die Familie mit ihren hingeschiedenen Mitgliedern fort; die Ahnen wissen um
alles, was im Hause vorgeht; die ihnen dargebrachten Opfer dienen dazu, die Gemeinschaft
immer zu erneuern und die gegenwärtigen Geschlechter mit der Vorzeit in Zusammenhang
zu erhalten. Die gewissenhafte Besorgung dieses frommen Dienstes ist das Kennzeichen eines
wackern Bürgers; sie ist die Bedingung des öffentlichen Vertrauens; sie wird auch von seiten
des Staates als eine wesentliche Voraussetzung der öffentlichen Wohlfahrt angesehen; denn
diese wird gefährdet, wenn einer der Verstorbenen zürnt. Darum gab es öffentliche Ahnen-
tage, an denen alle Familien der Stadt das Andenken ihrer Verstorbenen feierten, und wenn
dieses Totenfest auch den Namen des Geburtsfestes trug, so scheint es, es liege hier die Art*
ficht zugrunde, welche die Griechen bei den Indern wiederfanden, daß nämlich der Tod
nichts anderes sei als die Geburt zu einem neuen und zu dem wahren Leben.
Daß dieser Gedanke auch den Griechen nicht fremd gewesen sei, bezeugt ihre bildende
Kunst, indem sie die hinraffenden Todesgöttinnen als Nymphen darstellt, welche die wie
Kinder gestalteten Seelen mild umfangen und dieselben an ihrer mütterlichen Brust mit der
Nahrung eines neuen Lebens tränken. Nach keiner Richtung hin ist die bildende Kunst der
Alten ersindsamer und tätiger gewesen als in Beziehung auf die Toten. Ihre Wohnstätten
waren dauerhafter und kunstvoller als die der Lebenden. Für keine Art von Privatbauten
sinden wir einen gleichen Eifer, so daß hier die Gesetzgebungen einschreiten mußten, um
einem übermäßigen Aufwände zu steuern. Ein Schmuck des Landes, zogen sich die Gräber
an den besuchtesten Heerstraßen entlang zum deutlichen Zeichen, daß man sie dem Auge