— 63 —
2. Herakles am Scheidewege.
Eines Tages begab er sich von Hirten und
Herden weg in eine einsame Gegend und überlegte
stille bei sich, welchen Lebensweg er einschlagen sollte.
Da sah er auf einmal zwei Frauen von hoher Gestalt
auf sich zukommen. Die eine zeigte in ihrem ganzen
Wesen Anstand und edle Würde, ihr Blick war be¬
scheiden, ihre Haltung sittsam, das Gewand, welches
sie trug, einfach und von fleckenloser Reinlichkeit.
Die andere sah aufgedunsen und verweichlicht aus; sie
hatte sich über die Maßen herausgeputzt und ihre Haut
geschminkt, den Kopf warf sie eitel in die Höhe und
mit den Augen betrachtete sie bald selbstgefällig ihre
eigene Gestalt, bald blickte sie um sich, ob auch andere
sie sähen; oft schaute sie nach ihrem eigenen Schatten.
Als die beiden dem Herakles näher kamen, ging
die erstere ruhig ihren Gang fort, bie andere aber
drängte sich vor, lief auf den Jüngling zu uud sprach:
„Herakles, ich sehe, du bist unschlüssig, welchen Weg
durch das Leben du eiuschlagen sollst. Wenn du mich
zur Freundin erwählst, so werde ich dich die ange¬
nehmste und gemächlichste Straße führen: keine Lust
sollst du ungekostet lassen und dein Leben ohne jegliche
Beschwerde hinbringen. Um Kriege und Geschäfte
hast du dich nicht zu bekümmern; du darfst nur
darauf bedacht sein, mit den köstlichsten Speisen und
Getränken dich zu laben, deine Augen, deine Ohren
und die anderen Sinne zu ergötzen, auf dem weichsten