306 12. Irrfahrten und Heimkehr des Odysseus.
worauf sie ihr Schiff heimwärts lenkten. So kam nach zwanzigjähriger
Abwesenheit der Zerstörer Trojas in seine Heimat zurück.
6. Penelope. Als Odysseus vom Schlummer erwachte, kehrte er
zunächst bei dem treuen Schweinehirten Enmäus ein. Das Glück
wollte, daß er hier auch seinen Sohn Telemach traf, den er als ein
kleines Kind zurückgelassen hatte. Welche Freude, als er sich zu erkennen
gab! Doch was mußte er hören, als nun Telemach zu erzählen begann!
Sein treues Weib Penelope war von hundert Freiern umlagert, welche
seit drei Jahren die Arme bestürmten, einem von ihnen die Hand zu
reichen. Inzwischen aber kamen sie täglich in Odysseus' Hause zusammen,
um von seinem Gute zu prassen, und niemand vermochte ihnen zu wehren.
Um sich für eine Weile Ruhe zu verschaffen, hatte Penelope ihre Zuflucht
zu einer List genommen. „Gebt mir," hatte sie gesagt, „nur so lange
Frist, bis ich das Gewebe, an welchem ich arbeite, vollendet habe!"
Das Gewand wurde aber nie fertig; denn nachts trennte sie immer
wieder auf, was sie am Tage gewirkt hatte. Endlich hatten die Freier
die List entdeckt, und seitdem kannte ihre Zudringlichkeit keine Grenzen mehr.
7. Rache. Doch nun nahte für die hartgeprüfte Penelope die
Rettung, für die frechen Freier aber die Strafe. Als Bettler verkleidet,
begab sich Odysseus nach seinem Hause. Ein alter Hund erkannte ihn;
er wedelte mit dem Schwänze und wollte zu ihm herankriechen, sank
aber vor Schwäche nieder und starb. Odysseus zerdrückte eine Träne
im Auge; dann trat er in den Saal, wo er allen Hohn und Spott der
Freier ruhig über sich ergehen ließ. Jetzt erschien Penelope und sprach:
„Höret, ihr Männer! Oft schoß mein Gemahl einen Pfeil durch die Ohre
von zwölf hintereinander gestellten Beilen. Wem solch ein Schuß mit
diesem seinem Bogen gelingt, dem verspreche ich meine Hand." Aber
keiner vermochte den schweren Bogen auch nur zu spannen. Da erbat
sich Odysseus diesen. Die Freier höhnten; aber Telemach reichte
ihm die Waffe. Mit Leichtigkeit spannte der verkleidete Held die Sehne,
und schwirrend fuhr der Pfeil durch alle zwölf Öhre. Hierauf rief er
laut: „Dieser Wettkampf ist beendet; doch nun erwähle ich ein Ziel, das
noch kein Schütze getroffen!" Sprach's und schoß den Antinous, den
unverschämtesten der Freier, durch die Kehle. „Ha, ihr Hunde," rief
mit schrecklicher Stimme der Zerstörer Trojas, „ihr wähntet, ich würde
nimmer wiederkehren; darum praßtet ihr von meinem Gut und quältet
mein armes Weib drei Jahre lang. Aber heute ereilt euch die Rache!"
Die Freier erbleichten und suchten ihre Waffen; aber Telemach hatte sie
heimlich entfernt. Einen nach dem andern erlegte Odysseus, von Telemach
und dem Schweinehirten unterstützt. Zwar wurden den Freiern von
einem verräterischen Diener noch Waffen zugetragen; doch blieb Odysseus
Sieger. Als all die Prasser erschlagen lagen, gab sich der Heimgekehrte
seiner treuen Penelope, die während des Blutbades geschlafen hatte, zu
erkennen, und Freude kehrte wieder ein in das Herz und Haus des
gequälten Weibes nach der allzulangen Trennung.
8. Ilias und Odyssee. Schöner sind nie Kriege und Abenteuer
besungen, als die Kämpfe vor Troja und die Irrfahrten des Odysseus
durch den griechischen Dichter Homer. Dieser lebte um das Jahr