Sagen des klassischen Altertums? 
329 
schweißbedeckt aus dem Felde kehre. Da hörte sie das Geschrei in den 
Straßen, und in schrecklicher Ahnung eilte sie zu der Mauer, wo 
die jammernden Troer und Troerinnen ausschauten. Sie kam noch 
früh genug, um zu sehen, wie die Rosse des Peliden den Leichnam 
ihres Gatten erbarmungslos durchs Gefilde schleiften. Da ward es 
plötzlich dunkel vor ihren Augen, und bewußtlos sank sie in die Arme 
ihrer Schwägerinnen. Als ihr endlich der Atem wiederkehrte, begann 
sie in gebrochener Zulage vor Trojas Frauen: „Hektor, wehe mir 
Armen! Du, elend wie ich, zu Elend geboren wie ich! In Schmerz 
und Jammer sitze ich verlassen im Hause, eine Witwe mit unmündigem 
Kinde, das mit stets betränter Wimper aufwächst. Was nützen mir 
nun die schönen Gewände in den Truhen? Den Flammen will ich 
sie übergeben, da Hektor nicht mehr auf ihnen ruhen wird!" 
So wehklagte die Arme, und rings um sie weinten und klagten 
die Troerinnen. 
237. Das hölzerne Pferd. 
Nachdem die Griechen lange erfolglos um Tore und Mauern 
von Troja gekämpft hatten und der versuchte Sturm auf allen Seiten 
abgeschlagen worden war, rief der Seher Kalchas eine Versammlung 
der vornehmsten Helden zusammen und redete so vor ihnen: »Unter¬ 
ziehet euch nicht ferner den Mühseligkeiten eines gewaltsamen 
Kampfes, denn auf diesem Wege kommt ihr nicht zum Ziele; besinnet 
euch vielmehr auf irgendeinen Anschlag, der euren Schiffen und 
euch selber zum Heile gereichen mag. Denn vernehmet, was für 
ein Zeichen ich gestern geschaut habe. Ein Habicht jagte einem 
Täubchen nach; dieses aber schlüpfte in die Spalten eines Felsens 
hinein, um seinem Verfolger zu entgehn. Lange verweilte dieser 
grimmig vor dem Felsenspalt, aber das Tierchen kam nicht heraus; 
da verbarg sich der Raubvogel mit unterdrücktem Unmut im nahen 
Gebüsch; und siehe da, jetzt schlüpft die Taube in ihrer Torheit 
wieder heraus, der Habicht aber schießt auf das arme Tier nieder 
und erwürgt es ohne Erbarmen. Laßt uns diesen Vogel zum Muster 
nehmen und Troja nicht fürder mit Gewalt zu erobern bestrebt sein, 
sondern es einmal mit der List versuchen.(< 
So sprach der Seher, aber keinem der Helden, obgleich sie hin 
und her sannen, wollte ein Mittel einfallen, wie dem grausamen 
Kriege ein Ziel gesetzt werden könnte; einzig Odysseus kam endlich 
durch die Verschmitztheit seines Geistes auf ein solches. »Wisset 
ihr was, Freunde, rief er, freudig bewegt durch den glücklichen 
i \