Full text: Von der Französischen Revolution bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts (Teil 3)

Der Untergang der großen Armee. 1812. 165 
einer Kugel getroffen zu werden oder schon auf dem Hinzuge geblieben zu 
sein. Selbst derjenige, der dem Tod in tausendfachen Gestalten unerschrocken 
entgegengetreten war, geriet hier in Verzweiflung. Die Tapfersten wurden 
mutlos. Nur Jammerbilder sahen wir um uns. 
In einer kleinen Stadt war notdürftig ein Hospital eingerichtet. Die 
Wunden der armen Kranken waren mit Werg verstopft. An Kleidungsstücken 
fehlte es gänzlich; selbst die Lebensmittel konnten nur sehr spärlich gereicht 
werden. Als wir durch den Ort marschierten, streckten die, die sich noch 
rühren konnten, uns die Hände flehend entgegen und riefen: „Nehmt uns 
mit und laßt uns nicht umkommen!" Wir konnten ihnen ihre Bitte nicht ge¬ 
währen. Als sie das hörten, gerieten sie in Verzweiflung Sie heulten und 
wehklagten laut; einige rasten und fluchten. Einer, dem beide Füße abge¬ 
nommen waren, hatte sich noch bis an die Schwelle der Hütte, in der er 
lag, geschleppt und winselte uns leidklagend entgegen. Da kam der Befehl 
des Kaisers, der von dem Hospital gehört hatte, auf jeden Bagagewagen 
einen Verwundeten zu laden und auf diese Weise so viele als möglich mit¬ 
zuführen. Die Armen wurden nur für ein größeres Elend aufgespart. 
Denn bald nachher wollten die Fuhrleute von denen, die die Kälte noch am 
Leben ließ, nicht mehr belästigt sein, und schoben die Kranken unvermerkt 
vom Wagen in den Schnee, wo sich dann bald ihr Grab bildete. . . . 
Das Weiterziehen wurde immer beschwerlicher und schlechter. Äußerst 
langsam rückte die schwere, fast unbewegliche Masse vorwärts. . . Die Ord¬ 
nung der Regimenter löste sich ganz auf. Bald marschierten viele nicht mehr 
auf der Straße fort, weil jeder einen besseren Pfad zu finden hoffie. Wenn 
s'ch eine höher gelegene Stelle zeigte, wo weniger Schnee lag, drängte die 
Masse sich hin, um kurze Zeit Erleichterung zu haben. Aber diese Versuche 
mußten viele büßen. Hinter solchen Erhöhungen folgten oft tiefe Spalten, 
steile Einsenkungen, die, durch den Schnee trügerisch gefüllt, dem ebenen Bo¬ 
den gleich zu sein schienen. Die Krieget stürzten bis an den Leib, bis an 
die Schultern hinab; andere folgten, und das kalte Flockengestöber, das ihnen 
bet Sturm ins Gesicht trieb, blendete sie; sie stürzten über die Kameraden 
hin unb brückten sie noch tiefer in bas kalte Grab. So sah ich viele hin¬ 
sinken unb im Schnee verschwinben. Wenige arbeiteten sich triebet empor; 
ben meisten fehlte bie Kraft bazu. Die Waffe, mit ber sie sich zu helfen 
suchten, entsank ben erstarrten Hänben; bie Kälte lähmte ihre ©liebet, unb 
sie waren verloren. Sie riefen wohl noch mit ersterbender Stimme um 
Hilfe; aber niemanb hörte es im Geheul bes Sturmes, ober eigenes Elenb 
mar so hoch gestiegen, baß man eben nur an bie eigene Rettung bachte. 
Durch solche Ereignisse würbe anfangs bie Brust mit Jammer und Mit¬ 
leid gefüllt; als aber die Zahl sich mehrte, da stumpfte der Schmerz ab, und 
nur mitleidige Blicke trafen die, welche erstarrten ober bie Hänbe vergeblich 
noch Rettung ausstreckten. ... Der fortwährenb fallenbe Schnee überbeckte 
sie mit seinem Leichentuche, und bald war ihre Spur verschwunden. 
In der beschwerlichsten Lage befanden sich diejenigen, welche den Auf¬ 
trag hatten, die Nackzügler beizutreiben, und bei diesem Geschäft war auch 
ich-, Aden Augenblick mußten wir halten, um bie Zurückgebliebenen anzu¬ 
treiben. Ost bängten sie sich an bie Schweife unserer Pserbe unb ließen 
sich so einige Schritte fortfchleppen, bis sie bann ermattet hinsanken, um nie 
ttneber aufzustehen. Überall trafen wir auf Jammergestalten. Hier lag einer 
auf feinem hingefallenen Pferbe; bort lag einer am Wege, ber feine eigenen
	        
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