Full text: Deutsches Lesebuch für die mittleren Classen höherer Lehranstalten

Dichtungen in metrisch ungebundener Rede. 
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die Alte. Uns Schwalben hat die Natur 
ein holderes Loos gegeben: wenn der reiche 
Sommer sich endet, ziehen wir fort von hier“ 
Lessing. 
Narcisse blickte umher mit ihrem schmachten— 
den Auge. Viele andere Göttinnen und 
Nymphen beschäftigten sich auf mancherlei 
Weise und schmückten die Erde, frohlockend 
über ihr schönes Gebilde. 
Und siehe, als ein großer Theil von ihren 
Werken mit seinem Ruhm und ihrer Freude 
verblühet war, sprach Venus zu ihren Gra— 
zien also: „Was säumet Ihr, Schwestern der 
Anmuth? Auf, und webet von Euren Reizen 
auch eine sterbliche, sichtbare Blüthe!“ — 
Sie gingen zur Erde hinab, und Aglaja, die 
Grazie der Unschuld, bildete die Lilie; Thalia 
und Euphrosyne webten mit schwesterlicher 
Hand die Blume der Freude und der Liebe, 
die jungfräuliche Rose. 
Manche Blumen des Feldes und Gartens 
neiden einander; die Lilie und die Rose 
beneiden Keine und werden von Allen be— 
neidet. Schwesterlich blühn sie zusammen auf 
einem Gefilde der Flora und zieren einan— 
der; denn schwesterliche Grazien haben, un— 
getrennt, sie gewebt. Gerder. 
— — 
113. Die Wohlthaten. 
„Hast Du wohl einen größern Wohl— 
thäter unter den Thieren, als uns?“ fragte 
die Biene den Menschen. „Ja wohl,“ er— 
wiederte dieser. — Und wen?“ — „Das 
Schaf; denn seine Wolle ist mir nothwendig, 
Dein Honig nur angenehm. Und willst Du 
noch einen Grund wissen, warum ich das 
Schaf für meinen großern Wohlthäter halte? 
Es schentt mir seine Wolle ohne die ge— 
ngste Schwierigteit; aber wenn Du mir 
Deinen Honig schenkest, muß ich mich noch 
immer vor Deinem Siachel sruen 
Lessing. 
114. Die Filie und die Rose. 
Sagt mir, Ihr holden Töchter der rauhen, 
schwarsen n wer gab Euch Eure 
schöne Gestalte Denn wahrlich, von nied— 
lichen Fingern seid Ihr gebildet. Welche 
kleine Geister stiegen aus Euren Kelchen 
anpor? Und welches Vergnügen fühltet Ihr, 
da sich Gonnnen auf Euren Blättern wieg⸗ 
ten? Sagt mir, friedliche Blumen, wie 
theilten sie sich in ihr ersreuendes Geschäft 
und winkten einander zu, wann sie ihr fei⸗ 
nes Gewebe so vielfsach spannen, so vielfach 
Nerten und sticten? — Aber Ihr schweiget, 
holdselige Kinder, und genießet Eures Daseins. 
Vohlan, mi soll die lehrende Fabel erzählen, 
was Euer Mund mir verschweiget. 
Als einst, ein nadter Fels, die Erde da⸗ 
taund, siehe, da trug eine freundliche Schaer 
von Nymphen den jungfräulichen Boden hin⸗ 
an, und gefällige Genien waren bereit, den 
nackten Fels zu beblümen. Vielfach theilten 
sie sich in ihr Geschäft Schon mten ben 
Schnee und im kallen, kleinen Grase fing die 
bescheidene Demuth an und weble ba sich 
berbergende Veilchen. Die Hoffnung trat 
hinter ihr her und füllte mit kühlenden Düf— 
en die kelnen Kelche der erquidenden da— 
snthe. Jebt kam, da es jenen so wohl ge 
lang, ein stolzer, prangende Chor vielfarbiger 
Schonen. Die Tulpe erhob hr hnht 
115. Uacht und Tag. 
Nacht und Tag stritten mit einander um 
den Vorzug; der feurige, glänzende Knabe 
Tag fing an zu streiten. 
„Arme, dunkle Mutter,“ sprach er, „was 
hast Du, wie meine Sonne, wie meinen 
Himmel, wie meine Fluren, wie mein ge— 
schäftiges, rastloses Leben? Ich erwecke, was 
Du getödtet hast, zum Gefühl eines neuen 
Daseins; was Du erschlafftest, rege ich auf.“ 
„Dankt man Dir aber auch immer für 
Deine Aufregung?“ sprach die bescheidene, 
verschleierte Nacht. „Muß ich nicht erquicken, 
was Du ermattest? Und wie kann ich's 
anders, als meistens durch die Vergessenheit 
Deiner? — Ich hingegen, die Mutter der 
Götter und Menschen, nehme Alles, was ich 
erzeugte, mit seiner Zufriedenheit in meinen 
Schooß; sobald es den Saum meines Kleides 
berührt, vergißt es all Dein Blendwerk 
und neiget sein Haupt sanft nieder. Und 
dann erhebe, dann nähre ich die ruhig ge— 
wordene Seele mit himmlischem Thau. Dem 
Auge, das unter Deinem Sonnenstrahl nie 
gen Himmel zu sehen wagte, enthülle ich, 
die verhüllte Nacht, ein Heer von Sonnen, 
von Bildern, neue Hoffnungen, neue Sterne.“ 
Eben berührte der schwaßende Tag den
	        
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