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lichkeit vollziehen sie die Anordnungen des Arztes. Die Barmherzige
Schwester lebt ausschließlich ihrem Berufe. Außer ihren religiösen Ge¬
fühlen und Pflichten kennt sie keine anderen Interessen und Obliegen¬
heiten als die, welche dieser mit sich führt. Die Krankenpflege ist ihr
heilig als ein Gebot der Religion, und sie kennt und fordert keinen
andern Lohn als den, welchen die Religion ihr verheißt. Ihrer Ge-
nosienschaft mag der Begüterte, in dessen Hanse sie die Krankenpflege
geübt hat, dankbar eine Gabe zuwenden, sie selbst begehrt solche nicht
und darf sie auch nicht annehmen. Nur der Kranke als solcher ist
Gegenstand ihrer Bemühungen und ihrer Teilnahme; weitere persönliche
Beziehungen zu ihm und seinem Hause sind ausgeschlossen. Meistens
verbleibt in längeren Krankheitsfällen eine und dieselbe Schwester nur
eine beschränkte Zeit bei dem Kranken; sie wird oft urplötzlich durch
eine Mitgenossin ersetzt. In das Haus des Genesenen kommt sie nicht
wieder; nur der Kranke gehört ihr an, und keinen Augenblick darf sie
sich anderer Verhältnisse wegen der Krankenpflege entziehen. So wird
unentwegt, mit aller Bestimmtheit, Ausschließlichkeit und Unbeugsamkeit
die eine Pflicht und Lebensaufgabe festgehalten und erfüllt. Diesen treuen
und sich selbstverleugncnden Ausüberinnen christlicher Barmherzigkeit ist
das Wort des Herrn in ganz besonderem Maße ein trostreiches und
stärkendes: Selig sind die Barmherzigen, denn sie werden Barmherzigkeit
empfangen.
Der Stifter der Barmherzigen Schwestern widmete sein Leben bis
zum letzten Tage den mannigfaltigsten Werken der Barmherzigkeit.
Es ist nicht möglich, alle die verschiedenen Zweige ins Auge zu fassen,
in welche seine unermüdliche Liebesthätigkeit sich teilte. In allen diesen
Arbeiten wurde er immer reifer und milder in der Nachfolge Christi.
„Lieu L6 me plaît qu’en Jésus-Christ“, pflegte er zu sagen. Zu ver¬
wundern ist, wie sein schwächlicher Körper so lange die vielen An¬
strengungen ertrug. Eine beschwerliche Winterreise, die er in seinem
i4. Jahre machte, erschütterte jedoch seine Gesmldheit so, daß die nun
nachfolgenden elf Lebensjahre fast ein beständiges Siechtum waren.
Dennoch klagte er nie, sondern lenkte das Gespräch sofort auf einen
andern Gegenstand, wenn es sich aus seinen eigenen Körperzustand richtete.
Im Herbste des Jahres 1660 entschlief er. — Siebenzig Jahre nach
seinen: Tode hat die Kirche ihn heilig gesprochen.
Das Werk Bincenz de Paulas hat eine großartige Ausdehnung
gewonnen. Die Zahl der Glieder der besonderen, unmittelbar von ihm
gestifteten Genossenschaft wird gegenwärtig auf 28 000 geschätzt; die An¬
zahl aller Barmherzigen Schwestern mag leicht das Doppelte betragen.
Man trifft sie in den verschiedensten Ländern der alten und der neuen
Welt; die Barmherzige Schwester wacht am Krankenlager des armen
Hindu am Ganges und erleichtert dem sterbenden Neger Brasiliens den
letzten Kampf.
Durch das Vorbild der Barmherzig m Schwestern angeregt, schuf
1,11 Jahre 1836 der Pfarrer Fliedner in Kaiserswerth die Gemeinschaft
der evangelischen Diakonissen, welche gleiche Zwecke verfolgt und deren
Einrichtungen ini ganzen ähnlich sind, jedoch gemäß dem freieren Geiste